Berichte von Aktivistinnen, die bei Antikriegsdemonstrationen in Russland verhaftet wurden. Aufgezeichnet von der Journalistin Lidija Kusmenko.
Im Jahre 2022 hat die Antikriegsbewegung in Russland ein weibliches Gesicht. Es sind Frauen, die Flugblätter verteilen, auf denen Tipps gegeben werden, wie man sich dem Einzugsbefehl in die Armee entziehen kann. Und Frauen organisieren auch die meisten Aktionen gegen den Überfall auf die Ukraine.
Da tauschen Aktivistinnen zum Beispiel in Kasan, Orenburg und Sankt Petersburg Preisschildchen in den Geschäften gegen Angaben darüber aus, wie viele Menschen in der Ukraine von russischen Soldaten umgebracht worden sind. Die größte Graswurzelinitiative, „Feministischer Widerstand gegen den Krieg“ entwickelte eine neue Form aktiven Gedenkens: in verschiedenen russischen Städten haben Frauen heimlich Kreuze errichtet. Diese Kreuze symbolisieren das Geschehen in Mariupol, Butscha und anderen ukrainischen Städten. Anfang April sind solche Kreuze in Dutzenden russischen Städten aufgetaucht.
Wenn Frauen bei Protestaktionen auftreten, nimmt die Polizei sie fest.
Dem Menschenrechtsprojekt OVD-Info zufolge sind im Jahre 2022 immer mehr Frauen verhaftet worden. Wenn am 21. Januar 2021 noch 24,68 Prozent aller Verhafteten Frauen waren, so machten sie bei den jüngsten Antikriegsaktionen (vom 24. Februar bis zum 17. März) schon fast die Hälfte aller Festgenommenen aus: 44,38 Prozent. Insgesamt wurden bei den letzten Antikriegsaktionen über 15.000 Menschen festgenommen.
Die verhafteten Aktivistinnen werden erniedrigt und mit physischer und sexualisierter Gewalt bedroht. Sie verbringen ihre Nächte in dreckigen Zellen und schlafen auf verwanzten Matratzen. Was sie hören und erfahren bezeugt, welche Sprache Russlands Führung legalisiert und einer bestimmten Art von Kommunikation vorbehält: mit Nachbarländern ebenso wie mit jenen Menschen in Russland, die mit der Politik des Staates nicht einverstanden sind. Das ist zweifellos die Sprache der Gewalt, einer gnadenlosen, patriarchalischen Gewalt.
Der Journalistin Lidija Kusmenko haben einige Frauen erzählt, wie Polizeibeamte auf den Revieren mit ihnen umgesprungen sind, nachdem man sie bei Protestaktionen gegen den Krieg verhaftet hatte. Nichts haben wir an den Zitaten geändert, aber die Namen der jungen Frauen sicherheitshalber doch.
Sofja, Studentin, Sankt Petersburg
Jekaterina, Studentin, Nowosibirsk
Alexandra Skotschilenko, Künstlerin, Sankt-Peterburg
Anna, Studentin, Moskau
„Ich wurde am 6.März auf der Straße festgenommen und auf das Polizeirevier im Moskauer Bezirk Bratejevo gefahren. Dort verfrachtete man mich, wie alle anderen auch, in das so genannte «prophylaktische Kabinett Nr. 103». In ihm hielten sich vier Mitarbeiter:innen auf, zwei männliche Untersuchungsbeamte und zwei Frauen, welche die Aussagen aufzeichneten. Sie begannen die ganze Liste herunter abzufragen: wo ich arbeite, wie alt ich bin usw... Ich weigerte mich zu antworten, weil man ja dazu nicht verpflichtet ist.
Daraufhin fingen sie mich zu schlagen an – anfangs mit einer Stuhllehne auf den Kopf und auf die Ohren. Sie fragten: «Willst Du wie ein Mensch oder wie ein Hund behandelt werden?» Ich antwortete nichts und sie beschlossen mich so zu behandeln, wie sie es offenbar mit Hunden tun. Sie zwangen mich aufzustehen, indem sie den Stuhl unter mir wegschlugen. Die Polizistinnen machten mich runter und sagten, dass wir Heimatverräterinnen sind, dass wir von Politik keine Ahnung haben, dass uns das Land unsere Studienplätze finanziere, und wir würden das mit solch üblem Benehmen danken.
Danach holten sie eine zur Hälfte mit Wasser gefüllte Anderthalbliterflasche aus dem Schrank, mit der sie mich erneut auf den Kopf und auf die Ohren schlugen.
Besonders weh tat mir das nicht, wahrscheinlich war mein Schmerzempfinden zu diesem Zeitpunkt schon abgestumpft. Ich überlegte bloß, wann wohl mein letzter Moment anbrechen würde, als ich mich sagen hörte: «Jetzt reichts!».
Danach übergossen sie mich einige Male und kündigten an, das sei bloß Wasser, aber gleich würden Erde und Feuer drankommen. Ein Polizist sagte, er werde mir nun einen Topf über den Kopf stülpen und draufschlagen. Und dass er an mir Kippen ausdrücken werde. Er bat seine Kolleg:innen um ein Feuerzeug. Aber die bekamen es offenbar mit der Angst zu tun und sagten, sie hätten keines bei sich.
Die ganze Zeit über stellten sie immer weiter ihre Fragen und ich antwortete immer weiter: «Weiß nicht, erinnere mich nicht». Sie verboten mir, dass Wort «nicht» zu gebrauchen und erklärten mir, dass ich mich nicht in einem Film befände und keinerlei Rechte hätte, auch nicht auf einen Anwalt. Und erneut wiederholten sie: «Putin hat uns gesagt, dass ihr Volksfeindinnen seid, ihr seid überhaupt niemand, ihr seid Heimatverräterinnen». Sie sagten, ich würde Soja Kosmodemjanskaja mimen (Anmerkung der Redaktion: Soja Kosmodemjanskaja war eine 18-jährige Partisanin, die die Deutschen Ende 1941 in einem Dorf südwestlich von Moskau festnahmen und erhängten. Sie soll auch unter Folter keine Informationen preisgegeben haben. Sie gilt als Symbol des heldenhaften Widerstandes gegen den Faschismus.).
Sie fanden mein Handy bei mir und verlangten von mir, es zu entsperren - ich weigerte mich. Der Untersuchungsbeamte sagte, er werde es mir an den Kopf schleudern, bis es zerbräche. Dann fanden sie bei mir in der Telefonhülle ein Ticket vom Berliner Nahverkehr und brüllten unter unflätigen Flüchen los: ich hätte doch dort bleiben sollen, wo man mich anwarb. Wie viel man uns denn zahlen würde? Sie versuchten mich zu fotografieren, ich weigerte mich und sie begannen erneut, mich auf den Kopf zu schlagen. Schließlich brachten sie mich dazu aufzustehen und fotografierten mich vor der weißen Wand.
Dann setzten sie mich auf einen Stuhl, kramten eine Einkaufstüte vom Supermarkt «Pjaterotschki» hervor und zogen sie mir über den Kopf. Ich schaffte es, meine Hände mit hineinzustecken, um nicht zu ersticken. Da hielt der eine Untersuchungsbeamte meine Hände fest, der andere die Tüte. Am Hals würgten sie mich nicht, sondern hielten mir mit einer Hand Mund und Nase zu. Während sie mir die Tüte überstülpten, hatte ich es geschafft ein paar kleine Löcher hinein zu machen und drehte mich so herum, dass ich durch diese atmen konnte. Als sie das sahen, begann einer von ihnen mir mit dem Ellenbogen die Luft abzudrücken, um keine Spuren seiner Finger zu hinterlassen. Ich konnte mich seinem Griff entwinden, aber ich schlug dabei nach niemanden und trat nicht um mich. Ich befürchtete, dass ich bei meinem Verteidigungsversuch jemanden verletzen könnte und dass dann alles bloß schlimmer für mich würde. Danach probierten sie mich noch einmal zu fotografieren und führten mich ab.
Nach alledem vermied ich jeglichen Kontakt mit Mitarbeitern der Polizeiwache in Bratejewo. Obwohl sie zur Wohnung meiner Eltern kamen, wo ich polizeilich gemeldet bin, und auch ankündigten, sie würden zu Mamas Arbeitsstelle fahren. Ich ging zur Erste-Hilfe-Ambulanz, um meine Verletzungen zu Protokoll zu geben, und dort stellten sie bei mir eine Gehirnerschütterung fest. Jetzt geht es mir ein wenig besser. Ich bekomme zu alledem ein wenig Abstand. Aber die psychischen Nachwirkungen sind noch da.
Ich werde nicht Anzeige erstatten, aber ich werde zusammen mit den anderen Mädchen eine persönliche Beschwerde beim Untersuchungsausschuss (Anmerkung der Redaktion: für polizeiliche Übergriffe) einreichen. Ein Mädchen ist schon mit ihren Eltern und ihrem Anwalt dort gewesen, sie haben drei Stunden lang erzählt, was ihr passiert war. Die haben ihnen dort gesagt, dass die Namen dieser Mitarbeiter bekannt seien, dass es sich dabei aber um ein Staatsgeheimnis handele.“
Sofja, Studentin, Sankt Petersburg
„Sie haben mich am 2. März in Sankt Petersburg am Warenhaus Gostinyj Dvor verhaftet. Ausgerechnet diesmal war ich zu gar keiner Demo unterwegs, sondern war gerade eben mal aus dem Haus gelaufen, einem Freund entgegen. Ich hielt mich also dort auf, weil ich nebenan wohne. Irgendwie war alles wie immer: viele Leute, Straßenmusikanten, niemand stand mit Plakaten dort oder skandierte irgendetwas. Polizeitransporter waren natürlich zu sehen, aber die stehen jetzt ja überall herum.
Dann rannten plötzlich Leute von der Sondereinsatzgruppe OMON herbei, es begann ein großes Durcheinander, ich versuchte allen auszuweichen, stieß aber auf eine Wand aus Polizisten. Die ließen mich nicht durch. Ich kehrte um, aber es stellte sich heraus, dass die Polizei bereits alle eingekesselt hatte, die sich dort befanden. Zu guter Letzt schnappte mich ein Polizist und führte mich in einen Bus. Dort nahm man uns sofort die Ausweise ab, ohne zu sagen, auf welches Revier man uns bringen wollte. Ich befand mich in Gesellschaft von sieben Mädels und drei Jungen. Davon hatte man mich und drei weitere zufällig festgenommen: zwei Mädchen waren nach einem Museumsbesuch unterwegs zur Metro, ein Junge kam von der Arbeit.
Über vier Stunden lang standen wir im Korridor, hinsetzen durften wir uns nicht – dabei ging wieder und wieder ein Polizist an uns vorbei, der uns ununterbrochen anschrie, runtermachte und uns damit drohte, er werde uns für 15 Stunden hinter Gitter bringen.
Wir bekamen viele merkwürdige Drohungen zu hören: dass wir sehr lange in Haft bleiben oder uns eine weitere Anzeige einhandeln würden, wenn wir nicht auf sie hörten. Sie witzelten, dass wir «unentgeltlich ins Foltermuseum» geraten wären. Zum Rauchen ließen sie uns nicht raus, Essen oder Wasser gaben sie uns nicht.
Nach vier Stunden ließen sie uns in die Zellen und nahmen uns alles ab, inklusive BHs, Notizblöcken und Büchern. Folglich erzählten ich und die anderen Mädels uns gegenseitig Märchen und versuchten „Krokodil“ zu spielen. Die Zelle war sehr klein, ungefähr 2 mal 3 Meter, wenn nicht weniger. Ein eisernes Bänkchen, kein Fenster. In der Zelle war es schwül und stank nach Urin, irgendwo lagen Essensreste herum. Zu dieser Zeit kamen meine Freunde angefahren, die ich gebeten hatte, mir und all den Mädels etwa 10 Liter Wasser und etwas zum Essen zu bringen.
Ungefähr um 1 Uhr nachts schleuderte man uns in die ohnehin kleine Zelle für 7 Leute zwei dreckige Matratzen, aus denen sofort Wanzen herauskrochen. Auf unsere zahlreichen Bitten sie wieder fort zu nehmen, reagierte niemand.
Also stellten wir diese Matratzen hochkant in die äußerste Ecke und legten uns auf unsere Mäntel auf den Boden schlafen. Drei Mädels schliefen im Sitzen auf dem Bänkchen.
Ich hatte gehofft sofort einzuschlafen und gegen 10 Uhr morgens wieder aufzuwachen, weil man uns versprochen hatte, dass wir um diese Zeit zum Gericht transportiert würden. Und dann würde sich alles klären. Aber nein, schlafen konnte ich nicht, die Lampe leuchtete mir ins Gesicht, der Fußboden war kalt. Niemand von uns schaffte es länger als höchstens zwei Stunden durchzuschlafen, aber niemand wusste, wieviel Zeit genau vergangen war.
Wir fragten die Polizisten, wie spät es war, aber die reagierten gereizt, lächelten und sagten, dass wir hier keine Uhrzeit bräuchten. Das war wohl das Schrecklichste – dass Du keine Vorstellung davon hast, wann das alles enden könnte. Auf die Toilette ließen sie uns nur mit Verzögerungen, oft mussten wir lange klopfen und trotzdem schimpften sie dann noch auf uns. Du fühlst dich schrecklich hilflos, wenn sie ohne Grund auf dich wütend werden, wenn dich niemand anhört und Du einfach nicht als Mensch wahrgenommen wirst.
Ins Gericht gefahren wurden wir dann doch nicht um zehn Uhr morgens, sondern erst um 15 Uhr. Sie setzten uns in einen Polizeitransporter, der innen vollständig mit Blut bespritzt war. Wir wollten das erstmal aufwischen, um uns normal hinsetzen zu können, aber den Polizisten machte das nichts aus, sie waren sowieso spät dran. Wir mussten uns auf die blutbeschmierten Bänke setzen. Die drei Jungs setzten sich auf den Boden.
Obgleich ich vor Gericht meinen Mietvertrag für das Zimmer am Ort meiner Verhaftung vorweisen konnte, wurde ich trotzdem schuldig gesprochen. Ich bekam eine Geldstrafe von zehntausend Rubel. Der Junge, der friedlich auf dem Nachhauseweg von seiner Arbeit gewesen war, konnte vor Gericht auch seinen Arbeitsvertrag und die Adresse seiner Arbeitsstelle vorweisen, aber er wurde ebenfalls schuldig gesprochen und wurde für 24 Stunden Haft dabehalten.
Ich habe lange gebraucht, um das Erlebnis, in der Zelle eingesperrt zu sein, einigermaßen zu verdauen, das ist emotional sehr schwer. Sie redeten mit uns wie mit dem Vieh, wenn Du aber deine Rechte erwähnst, fangen sie an, Dir zu drohen. Und Du sitzt angsterfüllt da und fürchtest Dich, nochmal aufzumucken oder auf die Toilette zu wollen, damit nicht schon wieder so ein Onkel angerannt kommt und alle anbrüllt.“
Jekaterina, Studentin, Nowosibirsk
„Ich hatte immer geglaubt, dass mein Hund mich vor dem Schlimmsten bewahrt. Ich führe ihn einfach dort spazieren und damit hat sichs. Aber diesmal war alles anders, denn in Nowosibirsk verhaften sie die Leute jetzt schon von den Parkbänken weg. Ich saß dort immer mit einem Mann zusammen, der auch in diese Grünanlage spazieren kam. Wir saßen dort immer ein ganzes Weilchen, aber diesmal zerrten sie uns von der Bank in eine umzingelte Gruppe hinein. Ich musste den großen Hund auf den Arm nehmen, denn die Leute standen schon Schulter an Schulter.
Sie führten uns zu einem Polizeitransporter. Darin gab es mehrere Abteile und in unserem waren 14 Leute. Wir saßen einander auf den Schößen und der Hund kroch über unser aller Köpfe hinweg. Sie brachten uns in das Polizeirevier in der Mitschurinstraße. Mich ließen sie in der Halle unten, weil ich den Hund bei mir hatte. Dort schloss ich mit der Journalistin Rita Loginowa Bekanntschaft, die den Leuten Wasser und Essen brachte. Ich fasste zu ihr Vertrauen und übergab ihr den Hund. Ich nannte ihr die Telefonnummer von jemandem, der ihn zu sich nehmen konnte. Ich bin ihr unheimlich dankbar, denn sie hat uns in dieser Situation gerettet. Als ich in der Halle saß, kam ein Anwalt vorbei, mit dem ich reden konnte. Als ich dann die Treppe hoch ging, konnte ich ihn vom Telefon einer anderen Person aus nochmal anrufen, weil schon drei Stunden vergangen waren. Ich versuchte das einem Polizisten zu erklären, und der fragte bloß: „Gehst Du nun weiter?“. Er hatte sich nicht vorgestellt und trug keine Erkennungszeichen, führte mich dann auf die Wache, wo sie mir alle Dokumente abnahmen und mich in einen Käfig sperrten.
Später durfte ich raus und mich auf eine Bank setzen, wo ich weitere drei Stunden wartete. Den Anwalt ließen sie währenddessen nicht zu mir herein. Dann führten sie mich in die Aula, wo schon andere Verhaftete saßen. Dort wartete ich nochmal drei Stunden lang. Dann führten sie mich zum Chef. Der sagte, ich hätte die Wahl: entweder würde ich hier noch weitere fünf Stunden lang auf meinen Anwalt warten oder ich könnte ein Protokoll unterschreiben, dem zufolge ich keine medizinische Maske getragen hätte, und damit würde ich freigelassen. Ich stimmte zu, denn das war meine erste Festnahme und beim ersten Mal dürfte so etwas ohne ernsthafte Folgen bleiben. Ich unterschrieb also mehrere Dokumente, nahm mein Handy in Empfang und ging von dort fort.
Für mich war das die erste Festnahme und dass man meinen Anwalt nicht zu mir gelassen hatte, die Überführung auf die Wache, der Aufenthalt im Käfig – die Erinnerung daran lastet noch immer schwer auf mir. Bei alledem hatte ich geweint und war auch in Panik geraten. Dieser Polizist ohne Erkennungszeichen hatte mit seinen Kollegen darüber geredet, dass ich wohl zu 15 Tagen Haft verurteilt werden würde.
Mir scheint, dass die Statistik in Nowosibirsk schnell neue Zahlen ausweisen wird. Schon jetzt werden mehr Mädels als Männer verhaftet. An den Aktionen nehmen viele junge Frauen teil. Jetzt werden alle unter Druck gesetzt, wir haben keine guten Medien mehr, die Journalist:innen müssen emigrieren oder extrem vorsichtig sein. Wir können uns nicht mehr über Telegram austauschen, weil wir da ausspioniert werden können. Männer und Frauen werden jetzt nicht mehr unterschiedlich behandelt, man unternimmt alles, um alle Menschen zum Schweigen zu bringen. Damit sich alle still ducken.“
Tatjana, 42 Jahre alt (Name auf Bitten der Heldin geändert), Moskau
„Am 6. März habe ich an einer Protestaktion teilgenommen, es war eine friedliche Prozession, wir verstießen gegen nichts und störten niemanden, wir sind einfach so gegangen. Ein paarmal haben wir skandiert: „Nein zum Krieg!“. Aber „Krieg“ ist in unserem Land ein verbotenes Wort. Deshalb stoppten sie unsere Gruppe aus 29 Leuten und stießen uns in einen Polizeitransporter. Dieser Arrest ging sehr grob vor sich. Niemand beantwortete unsere Fragen, niemand stellte sich vor. Niemand ließ uns fotografieren, obwohl man dem Gesetz zufolge seine eigene Verhaftung fotografieren darf. Es ist mir unverständlich, warum man uns alle 29 in einen einzigen Polizeitransporter stopfte, obwohl daneben leere Wagen standen.
Nachdem man uns auf das Polizeirevier Bratejevo (ein Revier in der Stadt Moskau) gebracht hatte, nahm man uns unsere Pässe weg und kommunizierte fortan mit uns bloß noch mit Schreien, Beschimpfungen und Befehlen. Danach führten sie uns fort, um uns besonderen Prozeduren zu unterziehen. Ich war eine der ersten, deshalb schlugen sie mich noch nicht, aber sie drohten, mich zu vergewaltigen und zu verprügeln. Schon die zwei, drei Mädels, die nach mir kamen, wurden ohne Ausnahme verprügelt.
Uns zwangen sie mit Gewalt, uns fotografieren zulassen, hielten unsere Hände fest, drohten uns für drei Tage in den „Affenkäfig“ (so nennt man eine Art Zelle für Gefangene) zu setzen, drohten uns mit Strafverfahren.
Als wir dann herauskamen, lernte ich ein Mädchen kennen, die sagte, sie habe sich alle Beschimpfungen wörtlich gemerkt – unter ihnen waren sowohl die typisch russischen sexualisierten Beleidigungen vertreten wie auch jede andere Art von Beschimpfung, die man sich nur vorstellen kann.
Alles in allem hielten sie uns vom Moment unserer Verhaftung an sechs Stunden fest. Anwälte wurden nicht zu uns gelassen, da sie über uns sofort das „Festungsregime“ verhängt hatten (Anmerkung der Redaktion: ein besonderes Verfahren, bei dem niemand die Polizeiwache betreten oder verlassen darf – insbesondere nach Protestaktionen eine geläufige Maßnahme auf den Moskauer Polizeirevieren, um keine Anwälte zu den Festgenommenen lassen zu müssen).
Sogar heute, nachdem wir aus dem Revier herausgekommen sind, spüren die Polizisten uns weiter nach: in den Wohnungen von Verwandten, in Wohnheimen. Sie drohen uns zwar nicht irgendeine Art von Abrechnung an, aber Angst macht es doch, Du fürchtest für Dich selbst und Deine Nächsten. Die Frauen, die dort gewesen sind, haben die Folgen der Folter in Krankenhäusern protokollarisch feststellen lassen, zwei haben Tonaufzeichnungen von dem Geschehen gemacht.
Früher war es in Petersburg eine Tradition, Dich zu verprügeln, in Moskau, der elitären Hauptstadt des Landes, rührte man Dich hingegen nicht an. Jetzt aber ist es anders. Die haben einfach Angst. Auf dem Video von unserer Umzingelung sind 40 Mitarbeiter der Polizei und 24 meist junge Frauen zu sehen. Das sind alles kräftige, große Männer – und so viele! Und die haben Angst. Sie hatten sogar Angst davor, uns im Polizeirevier zusammen sitzen zu lassen, und trennten uns nach Möglichkeit voneinander. Obwohl wir doch schwache kleine Mädels waren und sie große, erwachsene Männer. Sie glauben, dass man alles mit dumpfer Gewalt ersticken kann. Aber das funktioniert nicht mehr.“
Die Zeugenaussagen der Aktivistinnen erschienen gedruckt erstmals im unabhängigen Internet-Magazin CHOLOD (zu Deutsch: Kälte). Wir danken der Redaktion zur Erlaubnis für die Übersetzung ins Deutsche.
Während der Arbeit an diesem Text hat man in Russland das erste Strafverfahren wegen Überklebens von Preisschildchen mit pazifistischen Losungen in einem Geschäft eröffnet.
Ein russisches Gericht hat die Petersburger Künstlerin und Musikantin Alexandra Skotschilenko in Haft genommen, vorläufig bis zum 31. Mai 2022, weil sie die Preisschildchen in einem Geschäft ausgetauscht hatte: gegen Zettel mit Informationen über den Beschuss des Theaters von Mariupol und den Tod friedlicher Bürger. Angeklagt ist die junge Frau jetzt nach dem Paragraphen über die öffentliche Verbreitung absichtlich falscher Informationen über die russische Armee (§207.3 des Strafgesetzbuches). Dieser Paragraph steht seit dem 4. März des Jahres 2022 im Strafgesetzbuch. Er sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe bis zu anderthalb Millionen Rubel (ca. 20.000 Euro) vor. Falls aber diese „falschen Informationen“ schwere Folgen nach sich gezogen haben, kann die Freiheitsstrafe zehn bis fünfzehn Jahre betragen. Auf dem Telegram-Kanal «Свободу Саше Скочиленко» ist ein Brief von Alexandra veröffentlicht, den sie ihrem Anwalt diktieren konnte. Einen Auszug daraus veröffentlichen wir hier als Zeugnis über einen weiteren Aufenthalt in Polizeigewahrsam.
Alexandra Skotschilenko, Künstlerin, Sankt-Peterburg
„Zuerst ein wenig über meine Verhaftung. Allein konnten die Fahnder meinen Aufenthaltsort nicht herausfinden, obgleich ich mich nirgendwo versteckte. Stattdessen gingen sie zu einem guten Kindheitsfreund von mir und veranlassten ihn mit Druck und Erpressung nicht nur mich zu verraten und gegen mich auszusagen, sondern auch bei meiner Festnahme mitzuwirken.
An jenem Morgen weckte mich ein Anruf von N., der sagte, bei ihm fände gerade eine Hausdurchsuchung statt. Später meldete er, die Polizisten seien fortgegangen und jetzt mit etwas Anderem beschäftigt, und bat mich schnell zu kommen und ihm zu helfen. Ich fuhr los ohne nachzudenken – das war ja schließlich mein Freund – und neben seinem Haus lief ich in eine Polizeifalle.
Der theoretisch noch in Freiheit verbrachte Tag in Gesellschaft der Fahnder und Ermittler war schrecklicher als alle Tage danach im Gefängnis. Sie sagten widerliche Sachen zu mir, demütigten mich und hetzten gegen mich. Ich bekam obszöne Kommentare zu meinem Äußeren, meiner Lebensweise, meinen Freunden und meiner Wohnung zu hören, es hagelte sexistische Bemerkungen und homophobe Äußerungen (à là: wann kommst Du endlich zu Verstand und schaffst Dir einen Mann und Kinder an?).
Das alles gehörte natürlich nicht zu ihrer Arbeit sondern folgte einfach aus einer Situation, in der fünf aggressive und nicht besonders gebildete Männer unbegrenzte Macht über eine von ihnen mit Gewalt festgehaltene Frau bekommen. Wahrscheinlich werden diese Leute in solch einem Moment selbst von irgendwelchen viehischen Instinkten überwältigt.”
In den letzten paar Jahren ist die Bewegung der russischen Feministinnen für ein Gesetz über häusliche Gewalt eine der konsolidiertesten Bürgerbewegungen gewesen. Juristinnen, Journalistinnen und Studentinnen kämpften vor Gerichten und auf den Straßen. Graswurzelpolitik und Graswurzelaktivismus haben in Russland schon seit langem ein weibliches Gesicht. Ähnlich den Aktivistinnen in Argentinien und in Uruguay zur Zeit der Militärdiktaturen dort, spielt der Protest der Frauen in Russland heute möglicherweise eine entscheidende Rolle. Am ehesten auf den Schultern dieser Frauen wird, wie immer nach Kriegen, später auch die ganze Last der Arbeit liegen, wenn es darum geht, die russische Gesellschaft vor der Sprache der Aggressionen und der Gewalt zu erretten. Aber vorläufig befinden gerade sie sich in der verletzlichsten Position, während des archaischen, patriarchalischen Krieges, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat.
Lidija Kusmenko, Journalistin
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de