Erinnern an Auschwitz. Der Kinofilm Treasure - Familie ist ein fremdes Land spielt in den frühen 1990er Jahre. Er erzählt von einem Besuch im Elternhaus des Vaters in Łódź, der als Kind nach Auschwitz deportiert wurde und als einziger seiner Familie überlebt hat. Dabei zeigt er eine hochspannende Tochter-Vater-Beziehung.
Ines Kappert: Als Sie sich entschlossen haben, den Roman Zu viele Männer von Lily Brett zu verfilmen – was haben Sie sich da vorgenommen?
Julia von Heinz: Dass das alles in engstem Einvernehmen mit Lily Brett passiert. Sie hat den Roman geschrieben und selbst diese Reise mit ihrem Vater in den frühen 1990er Jahren unternommen. Es ging also darum, diesem Teil ihrer Lebensgeschichte gerecht zu werden.
Der Film heißt Treasure - Familie ist ein fremdes Land: Warum?
Beim Schreiben des Drehbuchs haben wir viele Nebenfiguren und Nebengeschichten des 700-Seiten-Romans verloren. Daher machte “Zu viele Männer” keinen Sinn mehr. Der amerikanische Welt-Verleih hat dann “Treasure” vorgeschlagen, der mir gut gefallen hat. Denn wir haben in dieser Geschichte den Schatz der Vergangenheit und der Erinnerung. Aber vor allem drückt “Treasure” für mich den Schatz aus, den Vater und Tochter füreinander sind.
Sie haben die Hauptfiguren mit internationalen Stars besetzt: Stephen Fry und der feministischen Ikone Lena Dunham, bekannt geworden mit “Girls”. Wie kam es dazu?
Lily Brett wollte gerne einen internationalen Cast und hat an mich geglaubt, dass ich das schaffe. Natürlich war auch mein Film Und morgen die ganze Welt wichtig, da er in den USA viel positive Aufmerksamkeit bekommen hatte. Trotzdem ist es bei einem europäischen Projekt nicht ganz leicht, auch weil wir nicht die Gagen zahlen können, die im internationalen Maßstab aufgerufen werden. Es brauchte also ein besonderes Interesse von Stephen Fry und Lena Dunham bei dem Film mitzumachen.
Was hat die beiden besonders interessiert?
Stephen Fry hat selbst als junger Mann eine solche Reise gemacht und ist an die tschechisch-ungarische Grenze gefahren, auf den Spuren seiner Familie, die zu großen Teilen dem Holocaust zum Opfer gefallen ist. Bei Lena Dunham war mir zunächst nur klar, dass sie eine jüdische Mutter hat und Wurzeln im östlichen Europa.
Was ist dann passiert?
Kurz vor den Dreharbeiten rief Lenas Mutter sie an und sagte: “Ja, aus Polen kommt unsere Familie.” Dann meldete sich die TV-Show Finding your Roots bei Lena. Das ist eine Sendung, die für Prominente tief in die Archive steigt und deren Herkünfte recherchiert. Die haben nachgewiesen, dass auch Lenas Großvater in Łódź geboren wurde und dass von neun Geschwistern nur seine Mutter, also Lenas Urgroßmutter, es Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA geschafft hat. Von allen anderen fehlt jede Spur. Das alles war neu für Lena.
Tochter Ruth, der Vater Edek und auch die Nebenfiguren wirken authentisch, gerade weil sie nervig und weise, schön und hässlich zugleich sind.
Auch hier gab es ja wieder die Romanvorlage von Lily Brett, die eine fantastische, auch feministische Autorin ist. Zum Beispiel war sie ihr Leben lang mehrgewichtig und kämpft sich in ihren Büchern daran ab, schonungslos und witzig. Sie blickt dabei auch auf ihre Mutter, die gertenschlank war und ihrer Tochter jeden Bissen um den Mund gezählt hat. Warum? Das war auch das Trauma des Holocausts. Die Mutter hat ein Konzentrationslager überlebt. Für sie war Dicksein mit den Täter*innen verbunden, denn man konnte nicht dick sein, ohne anderen etwas weg zu essen. Die Tochter, also Lily, hat dann heimlich angefangen zu essen und unheimlich gelitten.
Gibt es ein feministisches Erinnern?
100 Prozent gibt es das und muss es noch viel mehr geben. Ich habe drei Kinder durch das deutsche Schulsystem geschleust. Es ist noch immer so: In den Schulbüchern gibt es einen gelben Kasten über “Die Rolle der Frau” oder “Berühmte Frauen”, die auch mal was gesagt haben. Dass Frauen die Hälfte der Menschheit ausmachen und Geschichte gestalten, ist noch nicht begriffen. Bei meinem Film Katharina Luther habe ich mich schon mal mit diesen Erinnerungslücken beschäftigt. Denn Luther ist gar nicht zu denken ohne Katharina von Bora, die mit ihm verheiratet war. Wir müssen die Geschichten der Vergessenen erzählen, die oft Frauen sind.
Was sind in Treasure feministische Schlüsselszenen?
Ruth, die Tochter, wird ständig gefragt, ob sie nicht verheiratet ist. Es wird angenommen, dass sie nicht vollständig ist, weil sie keinen Partner hat. Auch der Vater wirft ihr das vor. Ich wollte dieses Missverständnis unbedingt deutlich zeigen. Dann gibt es noch die beiden Dolmetscherinnen Sophia und Carolina, denen Edek und der Taxifahrer Stefan, gespielt von Zbigniew Zamachowski, im Hotel begegnen.
Was ist an ihnen feministisch?
Sophia ist ja eine Art Love-Interest für den Vater. Die beiden haben eine Affäre. Auch hier wurde ich viel gefragt, ob sie wirklich um die 60 Jahre alt seien sollte. Niemand hätte sich gewundert, wenn hier zwei Frauen um die 40 aufgetreten wären. Dabei ist Edek bald 70 Jahre alt. Doch für Edek und Stefan ist es völlig normal und passend, mit diesen beiden Frauen zu flirten. Als Feministin war mir das wichtig zu sagen: Eine 65jährige Frau kann sehr wohl eine schöne nächtliche Begegnung in einem Hotel haben.
Der Vater war als Kind in Auschwitz inhaftiert und hat als einziger seiner Familie überlebt. Er schweigt über diese Zeit. Was für Ruth nicht mehr zu ertragen ist. Trotz vieler Missverständnisse gehen beide achtsam miteinander um. Das hat mich fasziniert. Was war Ihnen an dieser Tochter-Vater-Beziehung besonders wichtig?
Ich gehöre auch einer Generation an, deren Väter gefühlsmäßig eher verschlossen waren. Das hat sich heute verändert, ist aber immer noch ein universelles Thema. Wenn man über transgenerationales Trauma spricht, dann bleibt der Satz richtig: Man muss die Eltern verstehen, um sich selbst zu verstehen. Schweigen hilft hier nicht. So geht es auch Ruth. Ruth ist ja nicht eins mit sich, sondern schon ziemlich verquer. Aber am Ende beginnt für beide, Vater und Tochter, eine Heilung, weil sie anfangen, Erinnerungen an die Zeit in Polen zu teilen.
Ruth versucht, mithilfe von Büchern über den Holocaust und Geschirr aus dem Elternhaus des Vaters ihre Familiengeschichte, ihre Herkunft zu verstehen. Der Vater wehrt ab. Er will im Jetzt leben, nicht in der Vergangenheit. Wie wichtig sind Gegenstände, um in Familien-Erinnerungen ein Zuhause zu finden?
Sie sind wichtig, denn sie kommunizieren mit uns. Als Edek zufällig den Stoff des Sofas aus seinem Elternhaus berührt, weiß er sofort: Das ist unser Sofa. Es gibt eine sensorische Erinnerung des Körpers, die Erinnerung wachrufen kann.
In Treasure kommen die deutschen Täter*innen nicht vor, sondern es geht darum, wie jüdische Überlebende und polnische Menschen 1991 mit dem Erbe des Holocaust umgehen.
Das war für mich die Hauptschwierigkeit: Wie komme ich als Deutsche dazu, vor allem auf Polen zu blicken? Deshalb war es mir so wichtig, eine Bandbreite von verschiedenen Umgangsformen mit der Erinnerung an den Holocaust zu zeigen. Außerdem hatten wir als Berater den Historiker Jan Tomasz Gross an unserer Seite, der das wegweisende Sachbuch “Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne” geschrieben hat. Er hat erforscht, wie 1941 christliche polnische Bewohner dieser Kleinstadt, 1600 jüdische Nachbar*innen ermordet haben. Seine Recherche hat die größte intellektuelle Debatte der polnischen Nachkriegsgeschichte ausgelöst. Zusätzlich hat der Film auch einen polnischen Co-Produzenten und fast alle Gewerke wurden mit Pol*innen besetzt. Einfach damit wir immer ein Korrektiv hatten, auch beim Machen des Films.
Der Film ist leise und eher langsam erzählt: Wie stellt man diese Tonalität als Filmemacherin her?
Mit filmischen Mitteln. Ich habe einen ganz gegenteiligen Film gemacht: Und morgen die ganze Welt. Bei Treasure wollten meine Kamerafrau Daniela Knapp und ich, dass die Zuschauer*innen die innere Reise von Ruth und Edek, die ja die eigentliche ist, von deren Gesichtern ablesen können. Also mussten diese viel Raum kriegen und die Zuschauer*innen genügend Zeit, diese Gesichter kennenzulernen. Daher haben wir mit einer eher statischen Kamera gearbeitet, damit nichts von den Gesichtern ablenkt.
Filmstart von Treasure ist der 12. September 2024. Er fällt damit in eine Zeit, die von dem Krieg Gaza/Israel geprägt ist. Was bedeutet das für Sie?
Erinnerungskultur wird gegenwärtig von vielen Seiten angegriffen. Nicht nur von Rechts, das war immer schon der Fall. Heute aber finden wir auch in progressiven und kulturellen Kreisen die Ansicht, dass mit Erinnerungskultur israelische Regierungspolitik gerechtfertigt werde. Das lehne ich ab. Solange es so wenig Geschichtsschreibung innerhalb der betroffenen Familien gibt, möchte ich mich kritisch mit Erinnerungen auseinandersetzen.