Ein Ort für Vagabundinnen

Berlin-Friedenau, Sarrazinstraße, in der zweiten oder dritten Etage wohnte im November 1986 Christina Thürmer-Rohr. Ich war ange­meldet. Draußen schien am späten Vormittag die Sonne, in der Woh­nung waren die Rollos heruntergelassen, das Licht war gedämpft.

Sie, gefühlte zwei Kopf größer als ich, musterte mich. Ich gehörte augenscheinlich nicht zur Szene gestandener, prominenter Westber­liner Feministinnen, die sich alle kannten oder zumindest einmal gekannt hatten. Eher in die Preisklasse ihrer Studentinnen.

Im Grunde hatte sie bereits am Telefon abgewunken, als ich ihr vorschlug, aus ihren bisher nur verstreut oder in den beiträgen zur feministischen theorie und praxis erschienenen Vorträgen ein Buch zu machen; am besten für den Orlanda Frauenverlag, denn dort arbei­tete ich. Eigentlich war die Sache also bereits gelaufen. Sie ging ins Nebenzimmer und holte den Vertrag mit einem großen Taschen­buchverlag, den sie nur noch unterschreiben müsse. Das hatte sie bereits am Telefon angedeutet. Aber sie zögere zu unterschreiben, sagte sie, sie könne sich einfach nicht dazu entschließen, und las mir die Klausel vor, die ihr Kopfzerbrechen bereitete. Die verpflichtete sie, die Vorträge zu überarbeiten und Wiederholungen sowie Über­schneidungen zu streichen. « Aber wie soll das gehen? » Die Texte seien komponiert, Wiederholungen unvermeidlich, näherten sie sich einem Thema doch von verschiedenen Seiten an. Und woher die Zeit nehmen für diese aufwändige Arbeit? Die Klausel verlangte in ihren Augen Unmögliches.

« Bei uns wären die Streichungen auch notwendig, aber ich helfe selbstverständlich dabei. Ich kann das. » Da stand ich immer noch mitten im Zimmer, dunkelblauer Baumwollanorak, Cordhosen, den Fahrradkorb vor die Füße gestellt. Bei Orlanda würden wir Auto­rinnen intensiv unterstützen, für uns sei das Tagesgeschäft. Als klei­ner, engagierter Verlag ... Farbe bekennen, ein Buch afro-deutscher Frauen, gerade erschienen ..., davon hatte sie gehört. Dass die beiden Orlanda-Verlegerinnen meiner Idee, ihr die Herausgabe ihrer gesam­melten Vorträge und Aufsätze vorzuschlagen, reserviert gegenüber­standen, sagte ich natürlich nicht.

Roswitha Burgard und Dagmar Schultz, die Verlegerinnen damals, hielten die Tatsache, dass Frauen zu Hunderten in Chris­tina Thürmer-Rohrs Vorträge pilgerten, für ein leicht fragwürdiges lokales Phänomen. In Westdeutschland, der Schweiz, in Österreich, da kenne sie doch niemand. Ich argumentierte mit der inhaltlichen Relevanz und – was vielleicht überzeugender war – damit, wie diese Vorträge auf mich selbst wirkten: Das Aufatmen, das sich jedes Mal bei mir einstellte, selbst wenn ich inhaltlich widersprach – endlich traut sich mal eine was! Die Idee von freiem Geist, die aus den Texten leuchtete und sich so gut anfühlte. Da machte sich eine die Mühe und hatte ein hohes Vermögen, präzise, differenziert und dennoch grund­sätzlich über das Patriarchat zu sprechen, ohne den Mann zu verteu­feln und die Frau zu idealisieren. Über das Mittun der Frauen ohne Hang zu Misogynie. Über den drohenden Atomkrieg, die neuen Hei­maten Spiritualität, Therapie ... Sich selbst ernst nehmend, andere ernst nehmen können und wollen – das war ansteckend. Was gab es Besseres, als sich davon anstecken zu lassen? Frauenbewegungen, überhaupt soziale Bewegungen, mussten nicht in Dogmatismus, Denk- und Fühlverboten, im Opferstatus und nicht in Selbstgerech­tigkeit enden.

Mit dem Vertragsangebot des großen Taschenbuchverlags hatte ich jetzt das schlagende Argument für meine beiden Verlegerinnen in der Hand: « Wir schnappen denen das Projekt weg. »

[infobox-25699]

Das Arbeiten mit Christina Thürmer-Rohr, auch bei zwei weite­ren Büchern, war zum einen völlig problemlos: Mal ein Komma hin, mal ein Komma weg, mal ein « sei » statt « wäre », ein « solle » statt « sollte » oder umgekehrt, um die Kohärenz im Modus oder Tempus herzustellen, mal eine Umstellung, ein anderer Ausdruck. Ganz gele­gentlich einen Tippfehler korrigieren. Da war nicht viel, die Manu­skripte waren tipptopp gearbeitet. Zum anderen erinnere ich mich an Diskussionen, etwa über weibliche Endungen. Unsere Diskussio­nen fanden bei geöffnetem Fenster statt, im Winter, Vagabundinnen entstand im Winter. Ob im Verlag, bei mir zu Hause oder in der Sar­razinstraße – Christina Thürmer-Rohr machte erst ein Fenster auf, bevor sie sich eine ansteckte, denn ich rauchte nicht. Das mit dem Fenster vergaß sie nie. Um mir dann zu erklären, warum sie diesen oder jenen meiner Vorschläge nicht annehmen konnte. Warum es genauso, wie es da stand, sein musste. Um dann zu sagen: « Du hast recht, aber ich will es so lassen. » Worauf ich erwiderte: « Es ist dein Text. Du musst es wissen. Meine Vorschläge sind nur Anregungen. »

Hinweise an Stellen, die nicht ideal oder kurzschließend oder redundant sind. Am Ende fand sie in der Regel dann doch eine Lösung, besser als die von mir vorgeschlagene, weil das eben bei dem Niveau der Manuskripte so ist: Da kann ein Lektorat nur auf etwas aufmerksam machen. Fehlende Stringenz der Argumentation, Doppelungen, Gedankenübersprünge ... Es war dein Text, Tina, und mir war’s ein Vergnügen, mit dir daran zu arbeiten, auch wenn wir uns gelegentlich furchtbar aufgeregt haben. Hohe Qualität ist eben Arbeit.

Vagabundinnen, die Essaysammlung, die im Winter 1986/87 entstand, verkaufte sich viele Tausende Mal und erreichte, soweit ich das überblicke, sechs Auflagen. Der Taschenbuchverlag erwarb schließlich Jahre später die Rechte für eine eigene Ausgabe.

Mein Besuch in der Sarrazinstraße ist dreißig Jahre und ein paar Tage her. Als wir uns im Prinzip einig waren, fing sie an, von ihrem fünfzigsten Geburtstag zu schwärmen, den ihre Studentinnen für sie ausgerichtet hatten. Das war nur ein paar Tage her gewesen, sie war noch ganz euphorisiert davon. Eine solche Geburtstagseuphorie wünsche ich jetzt natürlich auch für die Tage nach dem achtzigsten!