Paragraf 219a – die Nation muss bestehen

Feministischer Zwischenruf

Warum werden Frauenkörper vom Staat kontrolliert? Wessen Leben ist schützenswert? Über die Rolle der Frau in der rechten Erzählung von der Aufrechterhaltung der Nation und der Notwendigkeit reproduktiver Gerechtigkeit für alle.

Im Kern geht es bei der Debatte rund um den Paragraphen 219a um die Frage, ob die reproduktiven Rechte und Autonomie der Frauen schwerer wiegen als ihre Rolle zur Aufrechterhaltung der Nation. Anders formuliert: warum werden die Körper von Frauen vom Staat kontrolliert?

Paragraf 219a im Strafgesetzbuch verbietet „Werbung für den Abbruch derSchwangerschaft“. Ärzt*innen machen sich schon strafbar, wenn sie öffentlich Abbrüche anbieten.

Seit März 2018 ringt die Bundesregierung um einen Kompromiss, der schlussendlich mühsam in der letzten Woche gefunden wurde. Mit der angestrebten Reform dürfen Ärzt*innen und Kliniken über die Tatsache informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Für weiterführende Informationen müssen sie allerdings auf Behörden, Beratungsstellen und Ärztekammern verweisen.

Ein Paragraf aus einer anderen Zeit

Seit der Einführung während der Nazizeit (1933) wurde der Paragraf 219a kaum verändert. Im Nationalsozialismus spielte Bevölkerungspolitik eine wichtige Rolle: denn dadurch wurde entschieden, wer leben darf und wer nicht. Wer sich vermehren soll und wer vernichtet werden soll.

Dass der Paragraf 219a direkt zu Beginn der Naziherrschaft eingeführt wurde, ist insofern kein Zufall – und auch kein Wunder. Er war Teil eines vielschichtigen bevölkerungs- und gesundheitspolitischen Apparats für die Vermehrung der arischen Rasse. Eugenik, mit dem Ziel der Bevölkerungskontrolle, konnte nur anhand solcher Methoden und Regularien betrieben werden.

Die nationalsozialistische Gesetzgeber*in beanspruchte die Deutungshoheit über den Wert des Lebens. Diese eklatante Ironie hinterlässt bis heute einen bitteren Nachgeschmack, vor allem, wenn sich der Staat weiterhin diese Deutungshoheit sichert. Der Paragraf 219a stammt also aus einer Zeit, in der Ehrenkreuze „als sichtbares Zeichen des Dankes des Deutschen Volkes an kinderreiche Mütter“ verliehen wurden und gleichzeitig Millionen von Menschen zwangssterilisiert und ermordet wurden.

 

Dr. Emilia Roig gründete das Center for Intersectional Justice (CIJ) im 2017, um Gleichstellungs- und Anti-Diskriminierungsarbeit in Deutschland und Europa durch eine intersektionale Perspektive zu verändern. Das CIJ nutzt Advocacy und Politikberatung sowie Kampagnen und gezielte Öffentlichkeitsarbeit, um auf ineinandergreifende Formen von Diskriminierung aufmerksam zu machen und auf die politische Praxis Einfluss zu nehmen. Dr. Emilia Roig studierte an der Hertie School of Governance und promovierte an der Université Lumière Lyon 2 und der Humboldt Universität Berlin. Seit Sommer 2015 ist sie Dozentin im Social Justice Study Abroad Programm der Chicago DePaul University.


Pro Life – wessen Leben ist schützenswert

Die Argumente der europäischen Pro-Life – oder Anti-Choice – Bewegung sind dann auch von Doppelmoral gekennzeichnet. Diese sollten hinterfragt werden. Das Hauptmotto der Bewegung lautet: „Der Schutz des Lebens hat eine überragende Bedeutung“. Aber wessen Leben? Wo ist die Empörung, wenn tausende von Menschen auf ihrem Weg nach Europa aufgrund restriktiver europäischer Asyl- und Migrationspolitik und Frontex im Mittelmeer ertrinken? Wo ist die Empörung über massive Waffenexporte aus Deutschland, die sogar in Kriegsgebiete liefern, wo tausende von Menschen aller Altersklassen getötet werden? Wo ist die Empörung über die zunehmende Anzahl von „eugenischen“ Abtreibungen?

Brüssel, das Zentrum der Anti-Choice Bewegung

Rechte und nationalistische Strömungen treiben ihre politischen Ziele in Anti-Choice Bündnissen im Europäischen Parlament aktiv voran. Die Abtreibungsgegner*innen betreiben intensives Lobbying in Brüssel. Zu den Geldgeber*innen der breit angelegten Anti-Choice Kampagne zählen einflussreiche ausländische Sponsor*innen, vor allem aus Russland und den USA. Im ARTE-Dokumentarfilm „Pro Life – Abtreibungsgegner auf dem Vormarsch“ (2017) wird über die Methoden, Finanzierungsquellen und Strategien solcher Bündnisse berichtet. Der Zeitpunkt, zu dem das Recht auf Abtreibung zunehmend infrage gestellt wird – wie etwa durch die Debatte um den Paragrafen 219a in Deutschland – ist kein Zufall. Er fällt zusammen mit der Angst vor Überfremdung und dem Niedergang der weiß-europäischen Bevölkerung. In diesem Kontext rücken Frauen wieder in die Rolle der gebärenden Mütter, die für die Reproduktion und Aufrechterhaltung der Nation gelten. Bevölkerungspolitik, Eugenik und Biopolitik regulieren und steuern Reproduktion und die Frauenkörper. Die Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung der Frauen stelle nicht nur in Bezug auf Schwangerschaft, sondern auch auf Ehe, Beziehungen und Sex, eine große – wenn nicht die größte - Gefahr für den Nationalismus dar.

Von Recht zu Gerechtigkeit

In diesem Sinne würde es uns helfen, von dem Konzept der „Rechte“ zu dem der „Gerechtigkeit“ zu wechseln.

Die in den USA entstandene Bewegung für Reproduktive Gerechtigkeit (Reproductive Justice Movement) fokussiert sich nicht nur auf das Recht, keine Kinder zu haben, sondern auch auf das Recht, Kinder zu haben. Die Bewegung fußt auf dem Konzept des SisterSong Women of Color Reproductive Collective. SisterSong geht über den engen Fokus der bürgerlichen und politischen Rechte hinaus und arbeitet zusätzlich mit Aspekten der Menschenrechte. Reproduktive Gerechtigkeit ist ein Menschenrecht. Das Recht, „die persönliche körperliche Autonomie zu wahren, Kinder zu haben, keine Kinder zu haben und die Kinder, die wir in sicheren und nachhaltigen Gemeinschaften haben, zu erziehen“. Somit sind auch all diejenigen mitgedacht, die sich auf der Kehrseite der Anti-Choice Bewegung befinden: Trans* und queere Menschen, Schwarze und Menschen of Color, Roma und Sinti, Menschen mit Behinderung. Die Menschen, die die NS-Zeit nicht überlebten.

Kämpfen wir also für eine reproduktive Gerechtigkeit, die alle berücksichtigt?