Der Aufstand in Assam und die Frauen der United Liberation Front of Assam (ULFA)

In einem Dorf in Assam (Sivasagar District), das für viele Jahre vom Konflikt heimgesucht wurde.
Teaser Bild Untertitel
In einem Dorf in Assam (Sivasagar District), das für viele Jahre vom Konflikt heimgesucht wurde.

Der Nordosten Indiens ist mit seiner Konfliktgeschichte und -gegenwart wohl einer der am stärksten krisenbeladenen Regionen Südasiens. Trotz tausender Opfer, die die ethnische Zerrissenheit in dieser Region seit der indischen Unabhängigkeit 1947 gekostet hat, findet der Nordosten international immer noch sehr wenig Beachtung. Der schwelende Konflikt im Bundesstaat Assam, der seit den 1970er Jahren von einer nationalistischen Assam-Bewegung getrieben wird, ist bis heute ungelöst und flammte in den vergangenen Jahren immer wieder auf, mit fatalen Folgen.

Um den Assam-Konflikt und seine Akteure zu verstehen, muss man bis zum Beginn der indischen Unabhängigkeit zurückgehen. Als 1947 im Zuge der Spaltung der britischen Kolonie der östliche, mehrheitlich muslimische Teil von Bengalen an Pakistan fiel, blieb der indische Nordosten mit dem Rest des Landes lediglich durch einen 22 Kilometer breiten Korridor verbunden, was Kommunikations- und Wirtschaftsbeziehungen in die Region stark beeinträchtigte. Trotz der strategischen geopolitischen Lage im Grenzbereich zu Nepal, Bhutan, China (Tibet), Myanmar und Bangladesch (früher Ost-Pakistan) ist der Nordosten geografisch isoliert und wurde über Jahrzehnte politisch vernachlässigt. Trotz ihres Reichtums an natürlichen Ressourcen wie Kohle, Öl, Gas und Holz, ist die wirtschaftliche Entwicklung der Region im indischen Durchschnitt weit zurückgeblieben. Viele Menschen im Nordosten fühlen sich seit Jahrzehnten vom indischen Zentralstaat übergangen und werfen ihm ein koloniales Verhalten und Ausbeutung vor.

Mit der Unabhängigkeit kam es zu massiven Migrationsbewegungen, von denen vor allem Assam betroffen war; zunächst 1947 aufgrund der neuen Staatsgrenzen, dann ein weiterer dramatischer Schub als Folge des Bangladesch-Kriegs 1971. Die sozialen Spannungen zwischen den meist hinduistischen Assamesen und den muslimischen Migranten und Migrantinnen verstärkten sich in den 1970er Jahren. Dies befeuerte die assamesisch-nationalistische Zivilbewegung, angeführt von der Studentenorganisation All Assam Students‘ Union (AASU). Sie sah in der Zuwanderung eine Bedrohung für alle Assamesen und forderte einen Einwanderungsstopp und die Abschiebung illegaler Migrantinnen und Migranten. Diese Bewegung – ein „ziviler Aufstand“ – fand in der assamesischen Bevölkerung breite Zustimmung und es kam zu Protesten, aber auch zu gewalttätigen Angriffen auf Einwanderer mit zum Teil tödlichen Folgen. Der Ausländerhass kulminierte im Februar 1983, als ein Mob mit Macheten und Fackeln Dörfer, in denen Muslime wohnten, überfiel. Das sogenannte Nellie-Massaker kostete in wenigen Stunden über 2000 Menschen das Leben.

Die United Liberation Front of Assam(ULFA) und die Rekrutierung von Frauen

Die schwache Wirtschaftsentwicklung und die Unzufriedenheit über die Regierung in Delhi führten zu einer zunehmenden Unterstützung der separatistischen Bemühungen der 1979 gegründeten Guerilla-Organisation United Liberation Front of Assam (ULFA). Die Popularität der ULFA, die aus der Studentenbewegung hervorgegangen war, zog vor allem viele junge Mitglieder an, auch junge Frauen. Mit ihrer sozialistisch angelehnten Philosophie, die für ein vereintes Assam über ethnische und Kastenzugehörigkeiten hinweg warb, sprach die ULFA verständlicherweise eben die jungen Leute an, die die AASU zuvor für den zivilen Aufstand mobilisiert hatte. Darunter befanden sich auch viele Frauen, was aber in Assam nicht ungewöhnlich war. Frauen waren schon oft zuvor an Protesten und Aufständen maßgeblich beteiligt gewesen, und sie waren und sind generell emanzipierter als Frauen anderswo in Indien. Viele Frauen in der ULFA hatten sich vor ihrem Beitritt bereits in der ländlichen Frauenrechtsarbeit engagiert. Somit stellte es sich für sie als ein natürliches Anliegen dar, sich für ihre Gesellschaft einzusetzen. Da die bewaffnete ULFA Bewegung generell unter der Bevölkerung Assams auf viel Zustimmung stieß, genossen diese Frauen meist die Unterstützung ihrer Familien und betrachteten sich oft selbst als ‚Heldinnen‘.

Zu der Zeit gab es nur eine hauchdünne Unterscheidung in der Wahrnehmung des zivilen Aufstands und dem bewaffneten Widerstand. Beide Bewegungen verfolgten das Ziel, Assam für unabhängig zu erklären und die weitere Ausbeutung Assams durch den indischen Staat zu stoppen, ob mit Gewalt oder ohne. Vor allem in den ländlichen Gebieten Assams drückten viele Familien ihre Unterstützung für die ULFA aus, indem sie den Kadern Unterkunft boten und Verwundete pflegten. Die Geschichten, die die Kader zu erzählen hatten – vom abenteuerlichen Leben im Dschungel, gefährlichen Untergrundaktivitäten, revolutionären Ideologien –  inspirierten viele junge Frauen, der ULFA beizutreten.

Die ULFA zeigte sogar reges Interesse an der Rekrutierung von Frauen; Frauen bewiesen schon in vielen anderen bewaffneten Bewegungen, dass ihre Loyalität und Zuverlässigkeit oft die von Männern übersteigt. Die Frauen der ULFA versprachen der Bewegung ihre absolute Loyalität und erklärten sich mit der Bewegung durch ihre Ideologie so eng verbunden, dass sie sich als Revolutionäre und Kämpferinnen der ULFA betrachteten, die für das Wohl ihres Mutterlandes Assam und gegen die indische Unterdrückung kämpften. In der ULFA-Bewegung, deren Ideologie die Hierarchien von Kaste, Klasse und Ethnie angriff, sahen viele Frauen zudem das Potential, sich aktiv für die Gleichstellung der Frau in der assamesischen Gesellschaft einzusetzen. Für viele Frauen war eben der Wunsch nach Emanzipation ausschlaggebend für ihren Beitritt in der Untergrundorganisation.

Frauenempowerment in der ULFA – Mythos oder Realität?

Trotz dieser Aussagen ist es in vielen Fällen zu bezweifeln, dass den Frauen die Konsequenzen ihres Beitritts in den bewaffneten Widerstand ganz bewusst waren, und dass sie in der Lage waren, hierüber eine fundierte Entscheidung zu treffen. Die Aussagen von Befragten deuten zum Beispiel auch darauf hin, dass es kein offizielles Beitrittsverfahren in die ULFA gab und der Beitritt oft schon vollzogen war, bevor die Betroffene es überhaupt begreifen konnte. Ein ehemaliges Mitglied der ULFA berichtete beispielsweise davon, dass sie von einem Onkel zu einem mehrtägigen Treffen der ULFA eingeladen worden war, jedoch uninformiert darüber, worum es dort ging, geschweige denn, dass der Eintritt in die ULFA allein durch ihre Teilnahme eingeleitet wurde und ihr fast keine Möglichkeit blieb, zurück zu ihrer Familie zu kehren.

Für andere wiederum stellte der Eintritt in die ULFA eine Sicherheits- oder Schutzmaßnahme vor dem indischen Staat dar, der brutale Maßnahmen gegen die ULFA ergriff: Oft wurden Sympathisanten der Bewegung der direkten Unterstützung der ULFA beschuldigt und deshalb von der indischen Armee unter Druck gesetzt. Als sich der bewaffnete Widerstand Anfang der 1990er Jahre intensivierte, bot der indische Staat großzügige Anreizpakete für die Kapitulation vieler ULFA-Mitglieder; die Betroffenen wiederum wurden neu organisiert und gegen ihre ehemaligen Kameraden in der ULFA aufgehetzt. Die sogenannte SULFA (das S steht für das englische Wort für Kapitulation – „Surrender“) wurde vor allem für ihre blutrünstigen Übergriffe auf Familienmitglieder der ULFA-Anführer bekannt, was viele Gemeinden in Angst und Schrecken versetzte. Als Reaktion auf diese Unsicherheit trieb es viele Frauen zum eigenen Schutz in die Organisationsstruktur der ULFA.

So komplex die Beitrittsszenarien für viele Frauen in die ULFA, so unterschiedlich waren auch die Rollen und Hierarchien der Frauen innerhalb der Organisation. Ihnen wurden Rollen als Wächterinnen, Kuriere, Waffenschmugglerinnen und Pflegerinnen zugeteilt, wobei manche auch als aktive Kämpferinnen oder Trainerinnen in der Kampfausbildung auserkoren wurden. Ein Großteil der Frauen war lediglich dafür da, die Unterkünfte instand zu halten und für die Mahlzeiten zu sorgen. Die Anführer der ULFA hatten zudem Ehefrauen und später Kinder, die in der Obhut der ULFA aufwuchsen.

Laut Aussagen ehemaliger Mitglieder waren die Strukturen innerhalb der ULFA stets patriarchalisch. Die Frauen, auch wenn sie die gleichen Uniformen trugen wie ihre männlichen Kameraden, wurden bei den politischen und strategischen Entscheidungen innerhalb der Organisation vor allem nach einer internen Umstrukturierung Mitte der 1990er Jahre zunehmend ausgeschlossen. Zu dieser Zeit entstanden innerhalb der ULFA viele Zerwürfnisse, die für viele ein Ende der ursprünglichen Guerilla-Romantik bedeuteten. Die Erkenntnis, dass man als Frau von internen Entscheidungen ausgeschlossen blieb, führte mehrere von ihnen zum Ausstieg aus der ULFA.

Die Schwächung der ULFA, soziale Reintegration von ehemaligen Frauenmitgliedern und Friedensverhandlungen

Die ULFA unterhielt während ihrer aktivsten Jahre zum Unterschlupf geheime Camps in Myanmar und Bhutan. Im Dezember 2003 ging die indische Armee in Kooperation mit der bhutanischen Armee brutal gegen die Separatisten vor und beschoss ihre Siedlungen mit Raketen. Berichten zufolge starben dabei viele ULFA-Kader, aber auch Frauen und Kinder, die zur Angriffszeit in den Camps waren; die Organisation war dramatisch geschwächt. Viele der Frauen, die ihre Männer durch den Angriff verloren hatten, waren nach dieser Episode auf sich allein gestellt. Sie fühlten, dass sie die Rückendeckung der ULFA verloren hatten.

2008 einigten sich die ULFA und die indische Armee auf einen Waffenstillstand, der wiederum erst drei Jahre später zu ersten Friedensverhandlungen führte. Obwohl Frauen zu einer Zeit schätzungsweise 10 % der ULFA ausmachten, sind die Genderdimensionen des Konflikts in den Verhandlungen bis heute nicht mitbedacht worden. Es liegt an den strukturellen Paradigmen der Friedenskonsolidierung, dass Frauen nicht offiziell als Aufständische angesehen werden und als Folge in den Reintegrationsprozessen nicht eingebunden werden. Ohne finanzielle Unterstützung und mit geringem sozialen Status, oft verwitwet und ohne Familie, haben die ca. 200 Frauen, die ehemals der ULFA angehört haben und kapituliert haben, kein einfaches Schicksal. Um den Frieden langfristig zu sichern muss mit Würde auf die Bedürfnisse der Frauen eingegangen werden um ihre menschliche Sicherheit zu garantieren und das zyklische Muster des bewaffneten Widerstands in der Region zu beenden.

 


Quellen:

  1. Roshmi Goswami, 2015, „Of Revolution, Liberation and Agency: Aspirations and Realities in the Lives of Women Combatants and key Women Members of the United Liberation Front of Assam“, Manuskript für die Heinrich Böll Stiftung, Büro Neu-Delhi.
  2. Rakhee Kalita Moral, 2014, “The Woman Rebel and the State: Making War, Making Peace in Assam”, in Economic & Political Weekly, Vol. XLIX, Nos. 43 & 44.