Mit uns erhalten auch die Frauen, deren Würde ständig verletzt wird beim Thema Abtreibung, einen Teil ihrer Ehre zurück.
Neulich fuhr ich in den Urlaub, um abzuschalten. Ich packte drei meiner Enkel und meinen Sohn ins Auto und wir fuhren in die Berge. Oma, was ist eigentlich eine Lawine? Ja, das kann Schnee sein oder auch Erde. Z.B. wirft jemand einen Stein und bringt damit andere Steine ins Rollen. Das kann sogar einen Erdrutsch geben. Oma, aber warum bringt der Stein die anderen ins Rollen? Tja, vermutlich waren die vorher schon ein wenig locker, sonst würde das ja nicht passieren.
Schönes Bild eigentlich, denke ich und mir fällt ein, wie es losging: Yannic Hendricks hatte zig Ärzt*innen angezeigt, ausgerechnet bei mir brachte er den Staatsanwalt dazu, das Verfahren wieder aufzunehmen, obwohl der bereits eingestellt hatte. Er warf den ersten Stein. Ich muss schon lose gewesen sein, sonst hätte ich mich nicht entschieden, mit meinem Verfahren an die Öffentlichkeit zu gehen. Dann kamen die nächsten losen Steine: eine Mail aus Kassel: Frau Hänel, wir haben auch eine Strafanzeige erhalten und wir werden das Wort Schwangerschaftsabbruch nicht von der Homepage nehmen.
Ich weiß noch, dass ich völlig gerührt war, jetzt war ich nicht mehr allein. So lernte ich Nora Szász und Natascha Nicklaus kennen. Ich kann nicht alle Steine aufzählen, die ins Rollen kamen, es waren so viele und es ging so schnell: Eines Abends brachte mein Musikerfreund 400,-€ zur Probe mit: von meiner Mama, für dich zur Unterstützung. 400,-€! So viel Geld! Irgendwann das taz-Titelblatt: 30 Ärzt*innen waren bereit, mit ihrem Gesicht an die Öffentlichkeit zu gehen: Wir machen Schwangerschaftsabbrüche! Als ich davon erfuhr, habe ich zum ersten Mal seit der Ladung zum Gericht geheult. Und so ging es weiter, ein Stein kam zum anderen.
Heute stehen wir hier zu dritt und werden geehrt. Drei Ärztinnen, die Abtreibungen machen. Und mit uns erhalten auch die Frauen, deren Würde ständig verletzt wird beim Thema Abtreibung, einen Teil ihrer Ehre zurück.
Am 22. März werde ich auf der Leipziger Buchmesse mein Buch "Das Politische ist persönlich: Tagebuch einer „Abtreibungsärztin“ vorstellen. Darin habe ich versucht, die Geschehnisse aus meiner Sicht zu beschreiben. Ich lese im Folgenden Ausschnitte aus dem Kapitel
6.9.2018, Der Glaube
In diesem heißen Sommer ohne Regen kann niemand mehr sagen, es gäbe keinen Klimawandel. Auch politisch fällt es schwer, keine Veränderung wahrzunehmen, sie nicht wahrhaben zu wollen. In diesem Sommer wird auch über die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland berichtet. Angesichts meiner Erfahrungen mit dem Thema sexualisierte Gewalt wundere ich mich nicht darüber, dass es in der Institution Katholische Kirche gehäuft Missbrauchsfälle gab und gibt. Es ist gut, dass die erschreckend vielen Fälle jetzt endlich öffentlich werden. Das Schlimmste für die Opfer ist eine Gesellschaft, die es nicht wahrhaben will. Es ist entscheidend, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen und die Opfer rehabilitiert werden, nicht die Täter.
Auf einem Kongress von FIAPAC im französischen Nantes lerne ich die internationale Gruppe „Catholics for Choice“ kennen. Ich bin müde nach zwei Tagen Kongress, aber Christiane von Rauch, Freundin und Kollegin aus der Solidaritätsgruppe, zerrt mich in einen weiteren Workshop. Es soll dort u.a. um Moral und Ethik gehen. Ich kann das eigentlich nicht mehr hören. Aber dann wird der Workshop zu einem der wichtigsten Beiträge zu dem Thema für mich. Am meisten beeindruckt mich die Geschichte eines südafrikanischen Arztes, der vom Pro Lifer zum überzeugten Pro Choicer wurde, nachdem er den Tod einer Kollegin miterleben musste. Ich werde die Geschichte nicht mehr los. Früh am nächsten Morgen, Nantes liegt im Dunkeln, die anderen schlafen noch, laufe ich über die Loire in einen einsamen Park, und der Satz „She was young, tall and pretty – then she died“ wird in meinem Kopf zu einer immer wiederkehrenden Melodie. Es könnte der Beginn eines Liedes werden.