Von Spinnern zu politischen Akteur*innen – die Metamorphose der slowakischen ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik

Die ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik wird zunehmend instrumentalisiert; nicht nur in der Bevölkerung, sondern vor allem in den obersten Rängen der Politik.

„Wir haben uns für die Verabschiedung des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt stark gemacht und sind eines der ersten Länder, das dieses internationale Abkommen unterzeichnet hat“, sagte 2013 der damalige slowakische Ministerpräsident Robert Fico (Gehrerová, 2018). Sechs Jahre später, im März 2019, forderten zwei Drittel des Parlaments die Regierung auf, die Ratifizierung des Übereinkommens zu stoppen und den Europarat darüber zu informieren, dass die Slowakei keine Vertragspartei werde. Robert Fico - auch ohne offiziellen Posten nach wie vor eine Schlüsselfigur in der Regierungspolitik – begrüßte die Entscheidung, indem er behauptete, dass das Übereinkommen gegen die slowakische Verfassung verstoße und die heterosexuelle Ehe bedrohe. Diese Kehrtwende ist mehr als nur der Meinungsumschwung einer einzelnen Person. Sie verdeutlicht vielmehr das wachsende Zusammenspiel zwischen der sogenannten Gender-Ideologiemobilmachung und der etablierten Politik in der Slowakei. In den letzten Monaten hat es wiederholt Versuche gegeben, den Zugang für Frauen zu sicherer Abtreibung einzuschränken; auch diese Versuche wurden durch die Genderideologierhetorik befeuert. Sogar im Präsident*inschaftswahlkampf 2019 wurden Verweise auf die Genderideologie genutzt, um eine Drohkulisse aufzubauen.

Immer mehr Wissenschaftler*innen verstehen ‚Gender-Ideologie‘ als Kommunikationsstrategie, die von antiliberalen politischen Eliten, einschließlich konservativer und religiöser politischer Akteur*innen, gefördert wird (Grzebalska, Pető, 2015). Zudem führen Krizsán and Roggeband (2018) an, dass sich schwache und langsam wachsende Prozesse und Praktiken, die zu einem Zurückfallen der Geschlechtergleichstellung in Verbindung mit der Etablierung von ‚Gender-Ideologie‘-Politiken führen, oftmals unbemerkt und jenseits von Öffentlichkeit und Medien vollziehen. Dies gilt insbesondere für die Situation in der Slowakei, vor allem im Zusammenhang mit Politikgestaltung und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Im vorliegenden Beitrag werden wir die schrittweise Verbreitung der ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik in der slowakischen Zivilgesellschaft untersuchen. Wir werden zeigen, dass diese nicht von einer Gruppe radikaler Systemgegner*innen etabliert wurde, sondern vielmehr durch ein Netz von Akteur*innen, die mit den staatlich-bürokratischen Strukturen zusammenarbeiten und sogar die Europäische Union als Ressourcenpool nutzen.

Die Normalisierung von ‚Gender-Ideologie‘, Verschwörung und Hass

Das Auftreten der ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik in den slowakischen medialen Diskursen lässt sich bis in das Jahr 2011 zurückverfolgen. Vertreter*innen der katholischen Kirche waren die ersten, die diesen Begriff verwendet und verbreitet haben, vorwiegend im Zuge der Kritik am Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, das von der Slowakei als einem der ersten Länder unterzeichnet wurde. Im weiteren Verlauf verbreitete sich der Diskurs dann über religiöse Kreise hinaus und begann, nicht nur ein größeres Publikum anzuziehen, sondern auch neue diskursive Akteur*innen anzulocken, wie zivilgesellschaftliche Organisationen (die sich selbst als bürgerlich präsentierten, jedoch enge Verbindungen zur Kirche hatten), Verschwörungsmedien, Antiimpfgruppen und aufstrebende politische Akteur*innen, einschließlich nationalistischer, Anti-Establishment- und faschistischer Gruppen.

Diese unterschiedlichen Akteur*innen trafen sich gewöhnlich beim slowakischen Verschwörungsradiosender Slobodný vysielač, der seit 2013 verschiedene Themen unter dem Dach der sogenannten ‚Gender-Ideologie‘ intensiv diskutiert. Obwohl die Akteur*innen überaus vielfältig sind, scheinen sie im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung zu gewinnen: Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen, die an einer Verfassungsänderung mitwirkten, die erklärte, dass die Slowakei die heterosexuelle Ehe schütze und fördere (2014), und die 2015 das ‚Referendum zum Schutz der Familie‘ initiierten mit dem Ziel, LGBTI Personen zu diskriminieren; sowie die Vorsitzenden zweier extremistischer politischer Parteien, die 2016 ins Parlament gewählt wurden. Bei Letzteren handelt es sich um zwei vormals marginale politische Parteien: Ľudová strana Naše Slovensko (ĽSNS), die 8 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen bekam, und Sme Rodina, die vier Monate vor den Wahlen gegründet wurde und auf Anhieb 6,6 % der Stimmen erhielt. Diese Kräfte, die der EU und liberalen Demokratien insgesamt kritisch gegenüberstanden, sowie Anti-Gender-, nationalistische und Verschwörungskräfte hatten sich im Radiosender Slobodný vysielač schon zusammengefunden, bevor sie den öffentlichen Diskurs entscheidend zu beeinflussen begannen. Das Beispiel dieses Verschwörungssenders zeigt, wie ‚Gender‘ als Oberbegriff für unterschiedliche Dinge und als symbolischer Klebstoff (Grzebalska, Kováts & Pető, 2017) in diversen Diskursen verwendet wird. Des Weiteren verdeutlicht dieses Beispiel, dass der ‚Gender-Ideologie‘-Diskurs systemkritischen, nationalistischen, rechtsextremen und offen faschistischen Gruppen den Weg in das slowakische Parlament bereitet hat.

2015 warfen zivilgesellschaftliche Akteur*innen unter der Dachorganisation Alliance for Family unter Verwendung der ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik eine Reihe von Fragen zum Sexualkundeunterricht und zur gleichgeschlechtlichen Ehe auf und führten diese mit dem ‚Referendum zum Schutz der Familie‘ einer breiteren Öffentlichkeit zu. Mit großflächiger Unterstützung der Eliten der römisch-katholischen Kirche und anderer slowakischer Kirchen (Maďarová, 2015, Valkovičová, 2017) war es das erste slowakische Referendum, das von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen initiiert wurde und eine sichtbare und öffentliche Manifestation der ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik im öffentlichen Diskurs darstellte.

Slootmaecker und Sircar (2017) sind der Auffassung, dass ein Element der politischen ‚Gender-Ideologie‘-Agenda eine Art ‚wertebasierte Euroskepsis‘ ist, d.h. eine Reihe negativer Haltungen gegenüber einer Grundrechtepolitik, die als eine Form des Verstoßes gegen innerstaatliche Politiken betrachtet wird. Grzebalska und Pető (2017) hingegen behaupten, dass das die Akteur*innen nicht davon abhält, sich den Diskurs und die EU-Institutionen nötigenfalls zu eigen zu machen, beispielsweise wenn sie Finanzmittel benötigen.

‚Gender-Ideologie‘ in der Politikgestaltung – Zivilgesellschaft und Staat

Parallel dazu lässt sich die Entwicklung der ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik auch in den staatlich-bürokratischen Strukturen erkennen, insbesondere im Ausschuss für Geschlechtergleichstellung, der 2011 reformiert wurde und in einen Fachbeirat beim Regierungsrat für Menschenrechte, Minderheiten und Geschlechtergleichstellung mündete. Das Konzept der partizipativen Politikgestaltung geriet in der Praxis an seine Grenzen, da die Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen Organisationen bedeutete, dass nicht nur Akteur*innen aus Menschenrechts-, Gender- und Feminismus-NGOs Mitglieder*innen des Ausschusses wurden, sondern auch nichtstaatliche Akteur*innen, die sich gegen Geschlechtergleichstellung aussprachen.

Seit 2013 blockieren die konservativen Mitgliede*innen die Arbeit des Ausschusses, indem sie die Relevanz der Begriffe „Gender“ und „geschlechterbasierte Gewalt“ in Frage stellen und andere Strategien anwenden. Eine dieser Strategien hatte beispielsweise zum Ziel, 2016 einen Beschluss des Ausschusses zum 5. und 6. CEDAW-Bericht abzulehnen, da dieser die Slowakei für ihre restriktive Abtreibungspolitik kritisierte. Dieselben Akteur*innen stellten sich außerdem aktiv gegen die Ausarbeitung der ‚Strategie für Geschlechtergleichstellung 2014-2018‘ sowie gegen die Beratungen zur ‚Nationalen Strategie zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten 2014‘ mit dem Argument, dass diese eine Erziehung zur Anerkennung und Toleranz von LGBTI Personen befürworte.

Während Korolczuk und Graff (2018) behaupten, dass die ‚Gender-Ideologie‘-Akteur*innen den bestehenden zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eher kritisch gegenüberstehen, indem sie diese als ‚undemokratisch‘ abstempeln, beweist das Beispiel der Slowakei, dass das die ‚Gender-Ideologie‘-Akteur*innen nicht davon abhält, nichtstaatliche Partner*innen der staatlichen Strukturen werden zu wollen. Das Ziel des Aufbaus einer solchen Partner*innenschaft trat beispielsweise bei einer Ausschusssitzung 2016 zu Tage, als ein bei der Sitzung anwesendes Nichtmitglied (ein Vertreter der Organisation ‚Yes for Life‘) anführte, dass der Bericht über den Nationalen Aktionsplan zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auch Informationen über den ‚Nationalen Marsch für das Leben‘ (eine zivilgesellschaftliche Antiabtreibungskundgebung) enthalten müsse, da nach seinen Worten ein Ziel des Marsches sei, ‚Informationen an bedürftige Frauen‘ bereitzustellen.

Eine andere Art der Vernetzung zwischen Akteur*innen, dem Staat und (sogar) den EU-Strukturen tritt im Bereich Finanzierung zu Tage. Während der antikoloniale Rahmen eine Schlüsselrolle im ‚Gender-Ideologie‘-Diskurs (Korolczuk, Graff, 2018) spielt und die Akteur*innen der Europäischen Union und den staatlichen Strukturen vorwerfen, den Menschen eine ‚Gender-Ideologie‘ überzustülpen, bekommen sie gleichzeitig finanzielle Unterstützung vom Staat und von der EU. NGOs, die sich aktiv gegen die Istanbul-Konvention stellen, werden zum Beispiel vom Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie durch Geldmittel unterstützt, die für die Förderung der Geschlechtergleichstellung vorgesehen sind. Das Projekt einer der führenden ‚Gender-Ideologie‘-Organisationen wurde zum Beispiel mit EU- Mitteln gefördert, da es den Aufbau eines Nationalen Familienzentrums anstrebe und slowakische Familien von ‚pathologischen Phänomenen heilen werde‘. Ein derartiges Konstrukt behandelt die ‚Gender-Ideologie‘-Akteur*innen nicht als ‚Systemgegner*innen‘, sondern als Akteur*innen, die aktiv auf staatliche und EU-Strukturen zurückgreifen. Zudem wirft es die Frage auf, inwieweit die Staaten und die EU an der Verbreitung der ‚Gender-Ideologie-Rhetorik‘ eine Mitschuld tragen.

Abschließend sei gesagt, dass die breitangelegte Etablierung der ‚Gender-Ideologie‘-Rhetorik und die Normalisierung dieses Diskurses zeitgleich auf unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ebenen stattfindet. Der ‚Gender-Ideologie‘-Diskurs wird nicht nur durch Anti-EU-, Anti-Establishment-, nationalistische und rechtsextreme Akteur*innen verstärkt; er hat sich außerdem den Weg ins Parlament und die etablierte Politik gebahnt. Seit Jahren sind die Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft an den staatlich-bürokratischen Strukturen beteiligt und werden mit staatlichen und europäischen Geldern unterstützt. Dadurch sind sie zu einem beständigen Teil genau der (neo)liberalen Ordnung geworden, die sie zuvor jahrelang kritisiert hatten. Dies hat allmählich zu einem systematischen Zurückfallen der Geschlechtergleichstellungspolitik geführt und wirft die Frage nach der Art der Demokratie und des Platzes von Geschlechtergleichstellung in ihrer Ideenvorstellung und gelebten Praxis auf.

 

Literaturhinweise

Gehrerová, R. 2018. Pred štyrmi rokmi sa Fico prijatím Istanbulského dohovoru chválil. [online] Denník  N [7.4.2019]. Available at: https://dennikn.sk/1040340/pred-styrmi-rokmi-sa-fico-prijatim-istanbulskeho-dohovoru-chvalil-teraz-ho-odmieta-a-hadze-na-radicovu/?ref=tema

Grzebalska, W., Kováts, E., Pető, A. 2017. Gender as symbolic glue: How ’Gender’ became an umbrella term for the rejection of the (neo)liberal order. [online] Political Critique [13.1.2019]. Available at: http://politicalcritique.org/long-read/2017/gender-as-symbolic-glue-how…

Grzebalska, W., Pető, A. 2017. The gendered modus operandi of the illiberal transformation in Hungary and Poland, Women's Studies International Forum, 68(May-June): 164-172.

Korolczuk, E., Graff, A. 2018. Gender as “Ebola from Brussels”: The Anticolonial Frame and the Rise of Illiberal Populism, Signs, 43(4): 787-821

Krizsán, A., Roggeband, C. 2018. Towards a Conceptual Framework for Struggles over Democracy in Backsliding: Gender Equality Policy in Central Eastern Europe, Politics and Governance, 6(3): 90-95.

Maďarová, Z. 2015. Love and Fear – Argumentative Strategies Against Gender Equality in

Slovakia, in Aghdgomelashvili, E. et al., Anti-Gender Movements on the Rise?. Berlin: Heinrich Böll Foundation, pp. 33-42.

Slootmaeckers, K., Sircar, I. 2017. Marrying European and Domestic Politics? Investigating the European Dimension of the 2013 Croatian Marriage Referendum using a Value-Based Euroscepticism Framework?, Europe-Asia Studies, 70 (3): 321-344.

Valkovičová, V. 2017. ’Regrettably, it seems that breaking one border causes others to tumble’. Nationalism and homonegativity in the 2015 Slovak Referendum, Politique Europénne, 2017(55): 86 – 115.