Seit fast drei Monaten reißen in Warschau und anderen Städten Polens die Demonstrationen unter dem Slogan #StrajkKobiet (auf deutsch: Frauenstreik) nicht ab. Es sind die größten Proteste seit 30 Jahren in Polen. Am 22. Oktober 2020 erklärte das Verfassungsgericht in Warschau das aktuelle und bereits äußerst restriktive Abtreibungsgesetz für verfassungswidrig und ermöglichte damit eine weitere Verschärfung des Gesetzes. Eine Schwangerschaft darf demnach auch dann nicht beendet werden, wenn der Fötus schwere Fehlbildungen hat oder nicht lebensfähig ist. Damit ist eingetreten, wogegen Feminist*innen in Polen seit den sogenannten „schwarzen Montagen“ (Czarny Protest) im Oktober 2016 demonstrierten.
Magdo, 27, lebt in Berlin und ist ein*e nichtbinäre*r queere*r Aktivist*in aus Poznán. Magdo war seit Sommer 2020 Teil von Dziewuchy Berlin[1] und gründete im Januar 2021 das Kollektiv Constellation of Liberation (CoLiberation) mit. Nach einem Master in China Studien und einem weiteren in Medienwissenschaften, arbeitet Magdo seit Dezember 2020 im Rahmen des Doktorand*innenprogramms „Populist Backlash, Democratic Backsliding, and the Crisis of the Rule of Law in the European Union (POPBACK)“ an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
GWI: Seit Ende Oktober hast du mit Dziewuchy Berlin Woche für Woche Protestaktionen organisiert. Wie hast du diese letzten Monate erlebt?
Magdo: In erster Linie war und bin ich unglaublich wütend. Ich wohne seit 2012 in Berlin. Seitdem habe ich von Deutschland aus beobachtet, wie in Polen LGTB-freie Zonen ausgerufen wurden, wie die Gewalt gegen Queers zunahm, wie nicht-heterosexuelle Menschen von der Regierung als Phädophile bezeichnet werden und jetzt: wie reproduktive Rechte immer weiter eingeschränkt beziehungsweise abgeschafft werden. Direkt nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts am 22. Oktober haben wir mehrere Demonstrationen an unterschiedlichen Orten in Berlin organisiert. Wir nannten diese Aktionen die „blutige Woche“. Es folgte die zweite blutige Woche, insgesamt gab es sieben.
Was genau meint ihr, wenn ihr von „blutigen Wochen“ sprecht?
Magdo: Laut der „Federation for Women and Family Planning“ werden jährlich über 100.000 Schwangerschaftsabbrüche in Polen durchgeführt. Abtreibungsverbote führen nicht dazu, dass weniger abgetrieben wird, sondern lediglich zu mehr klandestinen [heimlichen, Anm. d. Red.] Abbrüchen, die ungewollt Schwangere im schlimmsten Fall nicht überleben. Die Entscheidungsträger*innen im Obersten Gericht haben das Blut von Menschen mit Uterus an den Händen. Die leitende Verfassungsrichterin Julia Przyłębska nennen wir deswegen „Bloody Julia“. Sie ist mit dem Botschafter Andrzej Przyłębski verheiratet und lebt in Berlin. Eine unserer ersten Demonstrationen fand im Berliner Villenviertel Grunewald vor der polnischen Botschaft statt.
Wer nahm an euren Aktionen teil, hauptsächlich die polnische Diaspora in Berlin?
Magdo: Bei Dziewuchy Berlin hatten wir alle einen persönlichen Bezug zu Polen, manche leben erst seit Kurzem in Deutschland, andere sind als Kinder migriert und in Deutschland aufgewachsen. Wir alle hatten das Gefühl, dass uns der aktuelle antifeministische Backlash ganz persönlich betrifft, wenn wir unsere Familien in Polen besuchen oder entscheiden sollten, zurückzuziehen. So ging es vielen Menschen, die zu unseren Aktionen kamen. Wir wollten der polnischen Diaspora in Berlin, aber auch allen anderen, die genauso wütend sind wie wir, eine Plattform bieten, uns versammeln und Solidarität zeigen. Uns ist es wichtig, den Protestierenden in Polen zu zeigen, dass sie nicht allein sind.
Ende Dezember 2020 veröffentlichte #StrajkKobiet ein Standpunktpapier mit ihren politischen Forderungen. Was hältst du davon?
Magdo: In den Forderungen des #StrajkKobiet geht es um 5 Themen: Frauenrechte, Arbeit, Bildung, säkularer Staat und Klima. Von der Legalisierung von Abtreibungen ist aber keine Rede. Das ist ein Schlag ins Gesicht. #StrajkKobiet schreibt, dass sie die Entscheidung des Verfassungsgerichtes ablehnen. Sie beziehen sich auf die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Aber sie liefern keine konkreten Vorschläge, wie emanzipatorische reproduktive Rechte in Polen umgesetzt werden können. Teile des Frauenstreiks wollen einfach den Kompromiss von 1993 zurück, in dem Abtreibungen im Fall von Vergewaltigung, bei Gefahr des Lebens der schwangeren Person, sowie aus embryopathologischen Gründen legal sind. Viele Protestierende, die seit dem 22. Oktober auf den Straßen waren, wollen aber mehr: Wir fordern legale und sichere Abtreibungen für alle.
Spaltet sich die feministische Protestbewegung in Polen gerade an dieser Frage?
Magdo: Viele Protestierende fühlen sich vom #StrajkKobiet betrogen und distanzieren sich. Auch mir geht es so, ich möchte mit dem Frauenstreik nicht mehr assoziiert werden. Einzelpersonen aus dem Frauenstreik beanspruchen ein Monopol über die Proteste und suchen mittlerweile das Gespräch mit liberalen Politiker*innen. Ein weiteres riesiges Problem sind die transfeindlichen Positionen des #StrajkKobiet, die gerade viel Öffentlichkeit in den Medien finden. Zum Beispiel publizierte die Gazeta Wyborcza, eine sonst recht emanzipatorische Zeitung, Artikel mit transfeindlichen Inhalten. Queere Aktivist*innen werden darin als Spalter*innen des Streiks dargestellt, weil sie für mehr Inklusivität plädieren als es der Frauenstreik – und das zeigt ja schon der Name - zulässt.
Was sind deine Forderungen in Bezug auf reproduktive Rechte?
Magdo: Reproduktive Gerechtigkeit bedeutet das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper zu haben. Es muss einen kostenlosen und entkriminalisierten Zugang zu medizinischer Versorgung für alle geben. Vor allem queere Körper werden unsichtbar gemacht und kriminalisiert. Zu protestieren bedeutet für mich gerade zwei Dinge: Die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes und die Wiederaneignung meines Körpers.
Am 9. November wurde der Entwurf eines Gesetzes vorgestellt, das Pride-Paraden verbieten soll. Wie hängen die Kämpfe um reproduktive Rechte und LGTBIQ-Rechte zusammen?
Magdo: Die Gesetzesentwürfe zur Einschränkung des Abtreibungsrechtes sowie zum Verbot von Prides wurden von der gleichen Person vorgestellt: Kaja Godek. Sie ist Pro-Life-Aktivistin und hat für den „Abortion Ban“-Entwurf 200.000 Unterschriften gesammelt, obwohl nur 100.000 notwendig sind, damit ein Gesetz im Kongress diskutiert wird. Godek wird von der katholischen Kirche unterstützt, zum Beispiel indem das Unterschriftensammeln vor Kirchengebäuden stattfindet. Bei ihrem aktuellen Vorhaben geht es einerseits darum, Prides zu verbieten, aber der Gesetzesentwurf beinhaltet noch mehr Punkte. Zum Beispiel, dass Geschlecht nur biologisch diskutiert werden solle. Ich habe Angst, dass sie auch mit diesem Gesetzesentwurf Erfolg haben wird. In der aktuellen Situation in Polen kann ich es mir gut vorstellen. Es wird ein Krieg gegen Menschen mit Uterus und die LGTBIQ-Community geführt.
Konnten die Proteste – bei aller Kritik am #StrajkKobiet - dem rechten Backlash in Polen etwas entgegensetzen?
Magdo: Vor allem die jüngere Generation hat sich in den letzten Monaten radikalisiert. Junge Aktivist*innen wie aus dem Kollektiv Stop Bzdurom (Übersetzung: Stopp den Bullshit) fordern die Bewegung dazu auf, queere Themen und reproduktive Rechte zusammenzudenken. Der Protest spielt sich nicht nur auf der Straße, sondern vor allem auch in den Sozialen Medien ab. Ich glaube, wir brauchen im Moment sehr viel Ausdauer für die Aushandlungen innerhalb und außerhalb der feministischen Szene. Die Regierung ist weiterhin nicht dialogbereit. Ihre einzige Reaktion ist die Anwendung von Polizeigewalt. Seit Oktober wurden unglaublich viele Menschen verhaftet. Der Vizejustizminister Michał Woś drohte den Demonstrierenden mit Gefängnisstrafen bis zu acht Jahren und beruft sich dabei auf das während der Pandemie verhängte Demonstrationsverbot. Journalist*innen werden festgenommen, selbst Politiker*innen wie Barbara Nowacka von der linksliberalen Partei Inicjatywa Polska (iPL) bekommen bei den Demonstrationen Pfefferspray ab. Der 19-jährigen Mola wurde bei einem Protest Mitte Dezember von einem Polizisten mehrfach der Arm gebrochen. Die Europäische Union bleibt bei diesen Menschenrechtsverletzungen erstaunlich still.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Proteste werden weitergehen, aber ich weiß nicht, wie sie bei den aktuellen Zerwürfnissen aussehen werden. Die Debatten werden teilweise sehr aggressiv geführt. Auch was rechtliche Fragen angeht, gibt es gerade viel Unklarheit: Das Verfassungsgericht schiebt die schriftliche Veröffentlichung ihrer Entscheidung seit Oktober auf. Somit kann die Regierung das Gesetz noch nicht verabschieden. Viele Ärzt*innen wissen nicht, ob sie Abtreibungen aus embryopathologischen Gründen noch legal durchführen dürfen oder nicht. Wir Demonstrierenden wissen nicht, ob der Verzug im Verfassungsgericht als Teilerfolg der Proteste verstanden werden kann oder andere Gründe dahinterstehen.
Gibt es trotz allem etwas, das dir Hoffnung macht?
Magdo: Gerade bin ich auf jeden Fall eher pessimistisch, was einen emanzipatorischen Wandel in Polen angeht. Für schnelle Veränderungen fehlt es an Sexualerziehung, Informationen und gesamtgesellschaftlichem Bewusstsein. Vielen Pol*innen ist zum Beispiel nicht bewusst, wie viele Queers, Schwule und Lesben es in der polnischen Gesellschaft gibt, weil sich viele Menschen aus Angst vor Anfeindungen nicht outen. Ich setze auf die jüngere Generation, die über SocialMedia viel früher Zugang zu Informationen und Lebenswelten außerhalb Polens hat. Ich hoffe, dass sie die polnische Gesellschaft queeren, sodass irgendwann alle Menschen in Polen selbstbestimmt leben können.