Friedensprozesse brauchen eine feministische Vision!

Hintergrund

In den letzten Jahren wurde international im Bereich Frauen, Frieden und Sicherheit vieles erreicht. Im afghanischen Friedensprozess sind jedoch Frauen derzeit kaum repräsentiert. Ihre hart erkämpften Grundrechte stehen in den innerafghanischen Verhandlungen mit den Taliban auf dem Spiel.

Teaser Bild Untertitel
Launch of the UN Women ‘HeForShe’ campaign in Kabul, Afghanistan, on 16 June 2015.

Im Oktober 2020 jährte sich die Unterzeichnung der UN-Sicherheitsratsresolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ zum zwanzigsten Mal. In den letzten zwei Jahrzehnten ist viel passiert: international setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Einbeziehung von Frauen in Friedensprozesse und die Anwendung geschlechtersensibler Herangehensweisen zu einem längeren und nachhaltigeren Frieden führt; dass Gesellschaften mit hoher Geschlechtergerechtigkeit friedlicher sind und dass umgekehrt Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen eine Ursache vieler Konflikte ist.

Trotzdem bleibt noch viel zu tun. Schon hinsichtlich der bloßen Repräsentation von Frauen, die zwar nicht ausreichend, aber ein erster Schritt hin zu einer geschlechtersensiblen Ausgestaltung von Friedensprozessen ist, besteht nach wie vor Aufholbedarf: Wie der SHEcurity Index zeigt, waren an den meisten Friedensverhandlungen seit 2000 keine Frauen beteiligt, nie war das Geschlechterverhältnis der Verhandelnden ausgeglichen und bisher hat nur eine Frau, Miriam Coronel-Ferrer, als Chefverhandlerin ein Friedensabkommen unterzeichnet.

Die Europäische Union als Vorreiterin für Frauen, Frieden und Sicherheit?

Vierzehn Jahre nach der Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution 1325 verkündete die schwedische Außenministerin Margot Wallström 2014 eine bahnbrechende Entscheidung: Schweden wurde das erste Land weltweit, welches einen Rahmen für eine feministische Außenpolitik verabschiedete. Seither haben einige andere EU-Mitgliedstaaten nachgezogen, unter anderem Dänemark und Spanien. Einige weitere Länder, wie Frankreich, Deutschland, Zypern, Luxemburg und Irland haben zumindest die Absicht erklärt, ihre Außenpolitik feministischer zu gestalten.

Auch die Europäische Kommission hat in den letzten Jahren einige große Schritte hin zu einer feministischen Außenpolitik unternommen: In dem im Herbst 2020 veröffentlichten dritten Aktionsplan für die Gleichstellung der Geschlechter formuliert sie sehr ambitionierte Ziele für die EU-Außenpolitik. Diese sollen bis 2025 erreicht werden. Damit geht die Europäische Kommission auch auf die besonderen Vulnerabilitäten von Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten oder Krisensituationen wie der Covid-19 Pandemie ein. Unter anderem sollen 85% aller Aktivitäten die Gleichstellung der Geschlechter aktiv unterstützen und eine Frauenquote von 50% für die Managementebene aller involvierter EU-Institutionen, wie dem Europäischen Auswärtigen Dienst, erreicht werden. Außerdem sollen Mädchen und Frauen durch einen intersektionalen Ansatz dazu ermächtigt werden, ihre Rechte uneingeschränkt wahrzunehmen. Damit werden explizit die Verschränkungen verschiedener Diskriminierungen, die die Lebensrealität von Frauen und Mädchen beeinflussen, in den außenpolitischen Aktivitäten der EU berücksichtigt. So soll die Gleichstellung der Geschlechter in der Breite verankert werden. Auch Männer und Jungen sollen aktiv in die Hinterfragung von Geschlechterrollen und Stereotype einbezogen werden. Die im Dezember 2019 veröffentlichte Agenda der EU für Frauen, Frieden und Sicherheit, soll bis 2025 vollständig umgesetzt werden. Damit folgt die Europäische Kommissen einigen der Forderungen des Bericht des Europäische Parlaments zur  Ausgestaltung einer feministischen Außenpolitik.

Mit dem dritten Aktionsplan für die Gleichstellung der Geschlechter verfügt die EU nun über eine sehr gute Basis, um geschlechtersensible Ansätze systematisch in ihr auswärtiges Handeln zu integrieren. Gelingt es ihr, die Ziele des Aktionsplans zu erreichen, kann sie damit eine globale Vorbildfunktion einnehmen und sich damit an die Seite einiger Mitgliedstaaten stellen, die diese Vorbildfunktion bereits einnehmen.

Die Frage, welche konkreten Maßnahmen nun ergriffen werden müssen, beantwortet die Grüne/EFA Fraktion im Europäischen Parlament im März 2021 in einem Bericht zu feministischer Außenpolitik. Sie fordert eine stärkere Beteiligung von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen an Friedensprozessen. Außerdem muss die Regulierung von Waffenexporten restriktiver und effizienter und der gemeinsame Einsatz für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Waffen auf internationaler Ebene vergrößert werden. Auch sollte es Schulungen für zivile und militärische EU-Entsandte zu Geschlechtergerechtigkeit und der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ geben, um diese zu befähigen geschlechtersensible Perspektiven in ihrer Arbeit anzuwenden. Darüber hinaus fordern die Grünen eine Null-Toleranz-Policy gegenüber sexualisierter Gewalt in Konfliktsituationen, um die de-facto Straflosigkeit solcher Vergehen zu beseitigen und somit Versöhnungsprozesse und die Konsolidierung von Frieden zu erleichtern.

Fawzia Koofi: Frauen müssen Teil des Prozesses sein. Ihnen kann es gelingen, einen nachhaltigen Frieden zu erreichen und zu sichern

Der afghanische Friedensprozess ist gegenwärtig wohl der einzige, in dem die Beteiligung von Frauen eine solch signifikante Rolle für die Gestaltung eines nachhaltigen Abkommens spielt. Doch leider ist die personelle Besetzung der Verhandlungsteams von einer paritätischen Beteiligung beider Geschlechter weit entfernt. Es war ein hartes Ringen für Fawzia Koofi und ihre drei Mitstreiterinnen, überhaupt eine Frauenquote im Verhandlungsteam der Regierung durchzusetzen. Hinzu kommt, dass im Team der Taliban keine einzige Frau vertreten ist. Dies erfordert eine aktive Verteidigung von Frauenrechten in den Verhandlungen.

Die im September 2020 begonnenen innerafghanischen Verhandlungen in Doha hatten ursprünglich in der Bevölkerung viel Hoffnung auf die Beilegung des seit 40 Jahren andauernden bewaffneten Konfliktes durch ein Friedensabkommen geweckt. Im Dezember 2020 waren sie ins Stocken geraten, was hauptsächlich durch Erwartungen an den Wechsel der US-Regierung zu erklären ist. Die Verhandlungen basieren auf einem Abkommen, welches die vorherige US-Regierung im Februar 2020 mit den Taliban unterzeichnet hatte. Das Abkommen selbst weist schwerwiegende Lücken auf: es schließt die Rolle der afghanischen Regierung und somit implizit auch die Mitbestimmung der afghanischen Bevölkerung aus, es legt keinen verbindlichen Waffenstillstand fest, es garantiert die Freilassung 5.000 inhaftierter Taliban und eine Verpflichtung der Taliban auf Demokratie, Menschen- und Frauenrechte wird nicht erwähnt. Zudem beschließt es einen vollständigen Abzug der US-Truppen bis zum 1. Mai 2021. Die Taliban gingen aufgrund der vielen Zugeständnisse selbstbewusst in die Verhandlungen. Gleichzeitig steht das Abkommen derzeit auf dem Prüfstand, da die Zunahme von gezielten Anschlägen in Afghanistan einen Bruch mit ebendiesem bedeutet. Die neue US-Regierung steht daher unter Druck, ihre Afghanistan-Strategie neu zu bestimmen und eine zeitnahe Entscheidung bezüglich des Truppenabzugs zu treffen.

Seit der US-Chefverhandler Zalmay Khalilzad die beiden Verhandlungsteams im März 2021 in Doha mit einem Vorschlag für eine Übergangsregierung besuchte, ist die Situation noch komplexer und verfahrener geworden. Derzeit wird die  Möglichkeit einer zweiten „Bonn Konferenz“ diskutiert: Auf Vorschlag von US-Außenminister Blinken soll der Abschluss eines Friedensabkommens in einem von den Vereinten Nationen ausgerichteten Treffen der beiden Verhandlungsparteien in der Türkei in Anwesenheit von politischen Vertreter/innen aus der Region beschleunigt werden. In einer solchen Konferenz sollen weiterhin die Modalitäten einer Übergangsregierung festgelegt werden, die beide Parteien integriert. Doch ein hastig abgeschlossenes Abkommen wie im Jahr 2001 läuft Gefahr, dieselben Fehler zu wiederholen und erneut einen dysfunktionalen Staat hervorzubringen. Da der afghanische Präsident Ghani sich jedoch nach wie vor deutlich gegen eine solche Übergangsregierung ausspricht, ist der weitere Verlauf zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersehbar.

Währenddessen verschlechtert sich die Sicherheitslage im Land kontinuierlich, gezielte Angriffe und Tötungen richten sich häufig gegen Aktivist/innen, Journalist/innen und Vertreter/innen der Zivilgesellschaft. Erst im Januar 2021 wurden zwei Richterinnen auf ihrem Weg zur Arbeit getötet, Anfang März wurden drei Journalistinnen Opfer eines Anschlags. Eigentlich riskiert jede afghanische Frau, die sich für Frauen- oder Menschenrechte im Land einsetzt jeden Tag aufs Neue ihr Leben.

Palwasha Hassan: Konflikte können nicht allein militärisch gelöst werden

Die gegenwärtige Situation weckt schlimme Erinnerungen an die Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001. Seit dem Ende des dunkelsten Kapitels für Frauen- und Menschenrechte in der Geschichte des Landes konnten viele Fortschritte erreicht werden. Auch wenn die Gesellschaft von wahrer Gleichberechtigung nach wie vor weit entfernt ist, sind Frauenrechte in der afghanischen Verfassung von 2004 verankert. Mädchen besuchen Schulen, Frauen haben Zugang zu medizinischer Versorgung und sind Teil des öffentlichen Lebens und auch ihr sozio-ökonomischer Status konnte sich verbessern. Sie arbeiten als Journalistinnen und Richterinnen oder sind Aktivistinnen und Politikerinnen. Auch das öffentliche Narrativ hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert: Dank einer neuen Generation afghanischer Frauen ist die Diskussion über ihre Teilhabe und Grundrechte zumindest aus der urbanen Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken.

Dies ist auch der Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem Afghan Women’s Educational Centre zu verdanken. Die Direktorin der Organisation, Palwasha Hassan, stellt fest, dass gewaltsame Konflikte und damit einhergehend auch die Frage nach Frieden in der öffentlichen Wahrnehmung nicht länger als reine Männerdomäne gelten. Wie verbreitet der Wunsch nach der Garantie von Frauenrechten und der Beteiligung von Frauen am Friedensprozess auch innerhalb der Zivilbevölkerung ist, zeigt ein Blick in die Provinzen. In einer von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützen Studie zu Erwartungen der Bevölkerung an den Friedensprozess, gab zwar nur eine/r von 10 Befragten an, dass sie/er sich durch Frauen gut vertreten fühlen würde. Besonders bemerkenswert ist jedoch, dass sich mehr Männer als Frauen wünschten, von Frauen repräsentiert zu werden. Auf einer von den Befragten erstellten Agenda für Friedensverhandlungen stehen Frauenrechte auf dem zweiten Platz, direkt hinter der Durchsetzung eines Waffenstillstands. Diese Ergebnisse zeigen, dass der Wunsch nach der Wahrung von Frauenrechten auch in der afghanischen Gesellschaft ein breites Echo findet, was auch Palwasha Hassan bestätigt: Es wird kaum noch hinterfragt, dass Frauen einen positiven Beitrag zum Friedensprozess leisten.

Fawzia Kofi: Die EU hat schon viel für den Schutz von Frauen- und Menschenrechten getan, aber wir erwarten mehr

Die EU kann mit Hilfe des neuen Aktionsplans zur Gleichstellung der Geschlechter und ihrer Agenda zu „Frauen, Frieden und Sicherheit“ die Vorbildfunktion stärken, die europäische Staaten wie Schweden im Bereich der feministischen Außenpolitik übernehmen.

Auch für den afghanischen Friedensprozess ist die EU eine wichtige internationale Akteurin, die gemeinsam mit ihren Verbündeten auf die beiden Verhandlungsparteien einwirken kann. Doch dafür müssen die EU, USA und NATO mit einer Stimme sprechen. Fawzia Koofi erwartet von der EU zumindest einen klaren und energischen Einsatz für die Absicherung der frauenrechtlichen Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre. Darüber hinaus muss sie darauf hinwirken, dass Frauen an einem politischen und gesellschaftlichen Neuaufbau eines afghanischen Staates gleichberechtigt beteiligt werden. Aber vor allem müssen nun alle internationalen Akteur/innen dazu beitragen, dass der Friedensprozess weitergeführt wird und die aktuell sehr fragile Situation überwunden wird.  

Aus dem Europäischen Parlament kommen zudem weitere Vorschläge für das Vorgehen der Europäischen Union: Sie solle insbesondere darauf pochen, dass Frauenrechte als universelle Rechte Teil einer neuen afghanischen Verfassung werden, fordert Erik Marquardt, grüner Europaabgeordneter. Wichtig sei es außerdem, die  wachsende Gewalt und die Zunahme gezielter Anschläge im Land zu verurteilen, mahnt Petras Auštrevičius, Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen zu Afghanistan des Europäischen Parlaments  Anfang März in einer Pressemitteilung an.

Bei allen Diskussionen um die Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen darf eines niemals aus den Augen geraten: sie ist mehr als reiner Selbstzweck. Palwasha Hassan sagt dazu: „Eine Gesellschaft, in der Frauen keine Partizipationsmöglichkeiten haben, verzichtet auf einen großen und wesentlichen Beitrag. Niemand sollte sich diesen entgehen lassen.“

 

Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht von HBS Brüssel.