Feminismus in der Ukraine ist anti-kolonial

Analyse

Der russische Imperialismus hat viele Mythen über Ukrainer*innen geschaffen, die ohne eine gendersensible Perspektive nicht zu verstehen sind. Der heutige Kampf für eine unabhängige nationale Identität, hat seine Wurzeln auch in der ukrainischen Frauenbewegung aus dem 20. Jahrhundert.

Illustration: Author of "Feminism in Ukraine is always anti-colonial"

Die koloniale Expansion des Russischen Reichs und – wie auch der nachfolgenden Sowjetunion und der heutigen Russischen Föderation – wurde von westlichen Intellektuellen und Politiker*innen lange Zeit weitgehend ignoriert. Auch im Rahmen der Postcolonial Studies fand sie nahezu keine Erwähnung. Diese fehlende Bereitschaft von Politik und Wissenschaft, sich realistisch mit den Beziehungen zwischen Moskau und den von Russland besetzten und kolonisierten Staaten auseinanderzusetzen, hat im Herzen Europas einen blinden Flecken geschaffen. Aus westlicher Perspektive war der neokoloniale Krieg, den Russland seit 2014 gegen die Ukraine führt, daher vornehmlich auf das zurückzuführen, was Sigmund Freud den „Narzissmus der kleinen Differenzen“ nannte. Entsprechend wurde zunächst mehrheitlich der russischen Propaganda geglaubt, die nach der vollen Invasion vom 24. Februar 2022 prophezeite, dass Kyjiw innerhalb von zwei oder drei Tagen eingenommen und die Ukraine insgesamt binnen zwei Wochen besiegt werde. Denn auch aus westlicher Sicht waren Ukrainer*innen rückständig, unterentwickelt und passiv.

Feministinnen kämpfen bis heute sowohl für die Emanzipation von Frauen als auch die nationale Befreiung

Diese Stereotype sind tief in der kolonialen Ideologie des russkij mir, der „Russischen Welt“, verwurzelt. Russkij mir steht für die Idee einer nationalen und kulturellen Überlegenheit Russlands sowie für die aggressive Verbreitung „traditioneller“ russischer Werte, die stark von Frauenfeindlichkeit, Homophobie und einer staatlich sanktionierten und geförderten Bekämpfung feministischer Werte und Errungenschaften geprägt sind. Antifeminismus kommt zwar in vielen Gesellschaften weltweit als Teil antidemokratischer politischer Strategien zum Einsatz, doch in den imperialistischen Bestrebungen Russlands nimmt er einen zentralen Platz ein. Dieser Essay will zeigen, wie sehr Antifeminismus in der Ideologie des russkij mir verankert ist, sowie den Nachweis erbringen, dass der antikoloniale Kampf der Ukraine stets auch das Engagement gegen Antifeminismus verlangt.

Matrjoschka – die perfekte Metapher für russkij mir

Die perfekte Metapher für das Wesen des russkij mir ist die russische Matrjoschka – ein Satz ineinander gesteckter Puppen mit putzigen Frauengesichtern. Von außen freundlich anzusehen, erinnern sie im Inneren an das Foltergerät der Eisernen Jungfrau. Auch hinter der angeblich antikapitalistischen und antikolonialen Fassade der Sowjetunion verbergen sich in Wirklichkeit koloniale Bestrebungen bis hin zum russischen Genozid an indigenen Bevölkerungsgruppen in den besetzten Gebieten. Selbstverständlich wurden die ethnischen Säuberungen und die Zwangsvertreibungen etwa der Tscherkessen im Verlauf der russischen Kolonialkriege im Kaukasus von 1763 bis 1864 vertuscht. Genauso wie die Zwangsdeportation und die Ausrottung der Krimtartaren. Auch die Ukraine wurde wiederholt Opfer von Holodomors1 (vom Menschen herbeigeführte Hungersnöte zur Ausrottung gebürtiger Ukrainer*innen und Kasach*innen) und politischen Säuberungsaktionen innerhalb der ukrainischen Staatselite in den Jahren 1937 bis 1938, den Rozstriliane vidrozhennia. Darüber hinaus sollten die Menschen im Land mittels einer umfassenden Russifizierung zu Mankurts2 – fügsamen Untertan*innen des Sowjetregimes – gemacht werden. Im Verlauf der 400 Jahre währenden russischen Besatzung wurde die ukrainische Sprache insgesamt 134 (!) Mal verboten. Die Kriminalisierung der ukrainischen Sprache war eines der machtvollsten und beliebtesten Mittel der Kolonialmacht. Sie ging davon aus, dass die ukrainische Sprache die nationalen, historischen und kulturellen Unterschiede zwischen Ukrainer*innen und Russ*innen besonders deutlich machen würde, der äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen Russ*innen und Ukrainer*innen zum Trotz. Daher musste sie verboten werden. Entsprechend war der Mythos der „Völkerfreundschaft“ ein wichtiges Mittel, um den russischen Imperialismus zu kaschieren. Auf einer modernen abgewandelten Form dieser „Völkerfreundschaft“ beruht auch das Konstrukt der drei „Bruderstaaten“, in dem Russ*innen, Ukrainer*innen und Belaruss*innen gemeinsam die „slawische Dreieinigkeit“ einer „allrussischen“ Nation bilden sollen.

Die Ukraine als „singendes und tanzendes Kleinrussland“

Wenn eine Nation, wie Benedict Anderson argumentiert, eine imaginierte politische Gemeinschaft ist, dann hat der russische Imperialismus die ukrainische Nation als orientalisierte, exotische Version eines „singenden und tanzenden Kleinrusslands“ (Riabczuk 2010, 14) erfunden – als ambivalentes geopolitisches Konstrukt, in dem alles Gute auf das gemeinsame russische Erbe zurückgeht, alles Schlechte auf böse, fremde – polnische, katholische, jesuitische, unierte oder tatarische, jüdische oder deutsche – Einflüsse zurückzuführen ist. Auch die Korruption geht demnach im Wesentlichen vom Westen aus. Entstanden ist eine Ideologie, in der die russische Kolonialmacht gleichzeitig eine „Bruderschaft“ mit „Kleinruss*innen“ fordert und Ukrainer*innen als „rechtsextreme Nationalist*innen und Neonazis“ diffamieren konnte, ohne mit der eigenen Logik zu brechen.

Doch die „Völkerfreundschaft“ war nicht das einzige Narrativ, um den Ruf des Sowjetregimes zu schönen. Ein weiteres war der Mythos von der Emanzipation der Frau, den die Sowjetregierung verbreitete. Im Zuge der Russischen Revolution von 1917 verkündeten die Bolschewiken die Emanzipation der Frau und die Abschaffung der Geschlechterungleichheit, die später in Artikel 22 der sowjetischen Verfassung von 1936 verankert wurde.3 Der Sowjetstaat erklärte die Errichtung einer modernen sozialistischen Gesellschaft ohne Frauenunterdrückung zu einer seiner wichtigsten Errungenschaften. In Wirklichkeit erklärte sich diese Behauptung mit dem gestiegenen Bedarf an Arbeitskräften, um das Wirtschaftswachstum des kommunistischen Staats zu unterstützen. Im Zuge der von der Sowjetunion verkündeten formalen Gleichstellung der Geschlechter wurden Themen wie häusliche Gewalt – und selbst Sexualität4 – vom Staat derart an den Rand gedrängt, dass sie nach und nach aus dem öffentlichen Diskurs verschwanden. Indessen leisteten Frauen weiterhin die gesamte Hausarbeit und Kinderbetreuung und waren entsprechend belastet durch ihre „zweite Schicht“, in der sie nach der anstrengenden Arbeit in den Fabriken oder Kolchosen einen ganzen Berg häuslicher Pflichten erledigen mussten. Zudem waren sie weitgehend von den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, die noch immer tief in patriarchalen Machthierarchien verwurzelt waren. Später, einige Jahre vor dem Zusammenbruch des kolonialen Monstrums namens Sowjetunion, fasste Michail Gorbatschow in seinem Werk Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt (1987), die Rolle der Sowjetfrauen folgendermaßen zusammen: Frauen sollten den öffentlichen Raum verlassen und sich wieder ihren eigentlichen weiblichen familiären Aufgaben widmen. Eine Vorstellung, die noch heute in der russischen Gesellschaft weit verbreitet ist.

Die feministische Bewegung in der Ukraine ist anti-kolonial

Für die Mehrheit der Frauen in der Ukraine hatte die sowjetische Vorherrschaft eine Kolonisierung sowohl ihrer nationalen als auch ihrer geschlechtlichen Identität zur Folge. Entsprechend war die ukrainische feministische Bewegung untrennbar mit der Vision einer nationalen Unabhängigkeit verbunden. Ukrainische Frauenrechtsaktivist*innen kämpften politisch wie kulturell stets sowohl für die Emanzipation von Frauen als auch für die nationale Befreiung. Als die Bolschewik*innen ihre sogenannte Emanzipation von Frauen verkündeten, verschwanden jedoch die Namen der vielen ukrainischen Vorreiter*innen der feministischen Bewegung von der Bildfläche. Stattdessen sahen sich die Ukrainerinnen mit der Erwartung konfrontiert, dem Sowjetregime auf ewig für die Befreiung vom Joch des Patriarchats dankbar sein zu müssen. Sie sollten ihre Loyalität gegenüber der Regierung durch harte Arbeit unter Beweis stellen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Bedürfnis nach einer „Remaskulinisierung“

Der Zusammenbruch der UdSSR war laut Putin nicht nur „die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“; er hatte auch den Verlust „wahrer“ Männlichkeit zur Folge. Als direkte Reaktion auf den Zusammenbruch des sowjetischen Imperialismus entstand so ein Bedürfnis nach Remaskulinisierung“ (Riabov und Riabova 2014). Die Gesellschaften der Russischen Föderation und ihrer Vorgängerin, der Sowjetunion, beruhten auf einem patriarchalen Wertesystem, in dem sich Macht durch die häufige Demonstration der Qualitäten eines „wahren Mannes“ legitimierte. Dieser definierte sich nicht über das, was er ist, sondern über das, was er nicht ist: Er ist weder verweiblicht, entsprechend auch nicht homosexuell, noch nicht-weiß oder nicht-orthodox.5 Putin steht für diese neo-koloniale Männlichkeit, die zudem eine große Gewaltbereitschaft voraussetzt – so groß, dass sie die kolonisierten Gesellschaften mithilfe der umfangreichen russischen militärischen Kapazitäten bezwingen kann (Connell 2016, 306). Putins Männlichkeit – mit ihrer Bildsprache des russischen Marlboro-Manns –, seine aggressive verbale Dominanz auf dem politischen Parkett und eine Reihe von als „Putinismen“ bezeichneten machohaften Aphorismen (Wood 2016, 2) sollten den Eindruck eines Mannes vermitteln, der imstande ist, das Ansehen Russlands in der Welt wiederherzustellen (Orlova 2018, 61). Schon bald bestimmte Putins hypermaskulines Machtszenario maßgeblich die russische Nationenbildung und das Nation Branding. Die klare Grenze zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“ (Voronova 2017) erwies sich dabei als erfolgreiche Diskursstrategie. Als der Kreml am 24. Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine startete, erklärte Putin:

Der Westen „versucht, unsere traditionellen Werte [Hervorhebung G.K.] zu zerstören und uns seine Pseudowerte aufzudrängen, die uns, unser Volk, von innen zerfressen sollen, all diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt und die auf direktem Weg zu Verfall und Entartung führen, denn sie widersprechen der Natur des Menschen.“

Doch diese „traditionellen Werte“ sind heftig mit anti-feministischer Rhetorik und Homophobie aufgeladen. Sie stehen in Opposition zu einer „Gender-Ideologie“, die als ausschließlich westliche Erfindung diffamiert wird. Seit Jahren bestimmt dieser Anti-Feminismus das politische und gesellschaftliche System Russlands. Obwohl die russische Verfassung in sowjetischer Tradition die Geschlechtergleichstellung in ihrem Artikel 22 verankert hat, gilt Feminismus de facto in der russischen Kultur als pervers, denn „normale“ Frauen zögen Familie und Kinder dem Kampf für Rechte und Gleichstellung vor. Anti-Feminismus und Anti-Gender-Diskurse bilden also einen Gleichklang mit Narrativen gegen den Westen, Demokratie und Menschenrechte, die großzügig in die ideologisch oder militärisch besetzten Gebiete exportiert werden.

Die sexuelle Perversion des Westens gefährde die nationale Unschuld

Mit Putins dritter Präsidentschaft 2012 setzte sich in Russland bezeichnenderweise der Begriff „Gayropa“ durch. Damit wollte man den Niedergang und Verfall des LGBTQI+-freundlichen Europa im Vergleich zur Russischen Föderation mit ihren traditionellen Werten unterstreichen. Ein solches Framing war der Ausgangspunkt für eine Sexualisierung der russischen Politik, die sich sexueller Ängste bediente, um den Mythos einer immerfort von der „sexuellen Perversion“ des Westens bedrohten nationalen Unschuld zu inszenieren. Mit anderen Worten: Der Kreml instrumentalisiert Anti-Gender- und Anti-Feminismus-Bewegungen, um russkij mir als russische Version einer „Politik der Ewigkeit“ zu etablieren – mit Russland als „jungfräuliche[m] Organismus, dem nur die Bedrohung durch ausländische Penetration Sorgen bereitete“ (Snyder 2018, 102) und der entsprechend geschützt werden müsse. Auf diese Weise rechtfertigt die öffentliche russische Verunglimpfung der „Gender-Ideologie“ eine autoritäre und repressive Innenpolitik, legitimiert Aggression als Teil der Außenpolitik und schafft insgesamt eine Basis für rechtsextreme Bewegungen (vgl. Bias 2023).

Frauen und queere Menschen spielen im ukrainischen Militär heute eine zentrale Rolle und stehen für einen Wandel zu mehr Gerechtigkeit.

In Bezug auf die Ukraine behauptet dieses Framing: Sie ist vom Westen korrumpiert, pervertiert und unmännlich, da unter „externer Kontrolle“. Schon während des Gasstreits im Jahr 2006 wurde die Ukraine im russischen Fernsehen als geldgierig und „flatterhafte ukrainische Mätresse“ bezeichnet (Riabov u. Riabova 2014, 28). Dieselbe Rhetorik fand wenige Wochen vor der groß angelegten Invasion erneut Verwendung, als Putin aus einem obszönen Song zitierte, um seine Sicht der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland zu illustrieren. Mit den Worten „ob es dir gefällt oder nicht, ertrage es, meine Schöne“ nahm er Bezug auf den Text von Znakomstvo vslepuyu (Blind Dates) der sowjetischen Punkrockband Krasnaya Plesen (Roter Schimmel): „Ich bin zu Schneewittchen in den Sarg gekrochen und habe sie gevögelt. Ob es dir gefällt oder nicht, schlafe, meine Schöne.“

Gender oder Anti-Gender: Wer gefährdet die Demokratie in der Ukraine?

Die koloniale Präsenz Russlands hat im kulturellen, sozialen und politischen Gefüge der ukrainischen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Trotz der offiziellen Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1991 prägte Russland als Kolonialmacht die sozio-politische Landschaft, auch hinsichtlich der Religion. Die Anti-Gender-Bewegung gewann immer mehr an Bedeutung: An der Verbreitung von Geschlechterrollen, -normen und -beziehungen, die sich vor allem über weibliche Unterwerfung, Passivität und Häuslichkeit sowie über eine aggressive Queerfeindlichkeit definieren, haben sich in der Ukraine russisch kontrollierte Medien und Fernsehkanäle sowie die ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats beteiligt. Bezeichnenderweise begründete das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I., in seiner Predigt am Freitag der Vergebung (dem letzten Freitag vor der Fastenzeit) den russischen Einmarsch in die Ukraine mit Gay-Pride-Paraden im Land6. Damit bekräftigte er den Zusammenhang zwischen Anti-Gender-Diskursen und dem russischen neokolonialen Weltbild, das 2022 in einer anlasslosen, aber umfassenden Invasion der Ukraine mündete.

In der ukrainischen Gesellschaft haben maßgeblich zur Dekonstruktion genderfeindlicher und sexistischer Narrative beigetragen. In der Studie „Gender oder Anti-Gender: wer gefährdet die Demokratie in der Ukraine“ kommen die ukrainischen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen La Strada Ukraine, Women in the Media und der Ukrainische Frauenfonds zu dem Schluss, dass der russische Informationskrieg gegen die Ukraine seit Beginn der Invasion 2014 auch darauf zielte, die Anti-Gender-Bewegung zu stärken. Die Autor*innen haben in ihrer Studie die Entwicklung sozialer Diskurse sowie gesellschaftlicher Initiativen und Veränderungen in den Jahren 2013 bis 2020 analysiert. Sie zeigen, wie die Russische Föderation ihre Anti-Gender-Rhetorik über das populäre Narrativ vom „Schutz familiärer Werte“ verbreitet hat, das eine Bedrohung dieser Werte durch Feminist*innen und LGBTQI+-Menschen behauptet. Eine solche Zusammenführung von Anti-Gender- und Anti-Feminismus-Bewegungen kann als russische Gegenreaktion auf die „Revolution der Würde“ von 2014 in der Ukraine gedeutet werden.

Eine neue Weiblichkeit in der Ukraine: Emanzipation als antikolonialer Kampf

Die „Revolution der Würde“ in der Ukraine hat, neben anderen soziopolitischen Veränderungen, auch einen neuen Typ Frau hervorgebracht: Die Aktivistin, die sich in der männlich und militaristisch geprägten Protestbewegung behaupten konnte (Phillips 2014; Martsenyuk 2014). Seitdem läuft in der Ukraine ein Prozess, den die ukrainische Philosophin Tamara Zlobina als Auflösung der Geschlechter, „gender decay“, bezeichnet und der den Zusammenhang zwischen Kolonialmacht und Gender7 aufbricht. Laut Zlobina bedeutet das die Entwicklung einer neuen emanzipatorischen Sozialrhetorik, die eine große gesellschaftliche Mobilität und Sichtbarkeit von Frauen in üblicherweise von Männern dominierten Bereichen wie Politik, Militär, Wirtschaft und Freiwilligendienste erlaubt. Darüber hinaus erkannte das ukrainische Parlament die Bedeutung von Frauen in Staats- und Nationenbildungsprozessen an und verabschiedete 2015 die Werchowna Rada, ein „Gesetz zur Änderung mehrerer Rechtsakte in der Ukraine“, um Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt aufgrund von Geschlecht, Geschlechtsidentität oder sexueller Ausrichtung zu unterbinden. Das ukrainische Gesundheitsministerium erklärte 2017 ein Dekret aus Sowjetzeiten für ungültig, das Frauen den Zugang zu 450 Berufsgruppen untersagte, die als Gefahr für ihre reproduktive Gesundheit erachtet wurden. Erlass Nr. 2928 des Verteidigungsministeriums eröffnet Berufssoldatinnen die Laufbahn eines Gefreiten, Unteroffiziers und Feldwebels. Die Bedeutung dieses neuen Erlasses ist nicht überschätzen. Wenn sich Frauen vor 2016 als Hecken- oder Richtschützinnen an Militäroperationen beteiligten, wurden sie offiziell als Köchinnen, Krankenschwestern oder in anderen Positionen ohne Kampfeinsatz registriert. Entsprechend konnten sie keine militärische Laufbahn einschlagen und hatten auch keinen Zugang zu Sozialleistungen, auf die ihre männlichen Kollegen Anspruch hatten. Stand November 2022 dienten fast 60.000 Frauen in den ukrainischen Streitkräften. 19.000 bekleideten zivile Positionen, rund 41.000 militärische und waren an etwa 5.000 Kampfhandlungen unmittelbar beteiligt.9

Während die Russische Föderation im Februar 2017 häusliche Gewalt offiziell straffrei stellte und im November ein Gesetz zum Verbot von „LGBT-Propaganda“ unter Erwachsenen verabschiedete10, ratifizierte das ukrainische Parlament die Istanbul-Konvention und sprach sich einstimmig für ein Gesetz über das Verbot von Hassrede in den Medien gegen Angehörige der LGBTQI+-Community aus. Diese beiden Gesetzesänderungen wurden im Juli und im Dezember 2022 verabschiedet – als Reaktion auf die russische Invasion. Auch das zeigt, dass sich die Ukraine dem Aufbau einer auf Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gestützten demokratischen und gerechten Gesellschaft verschrieben hat.

Anstelle eines Resumés

In der Logik des russischen Neokolonialismus verkehrt sich der kartesische Kerngedanke Ich denke, also bin ich in ein imperiales Argument: Ich siege, also bin ich.11 Anti-Feminismus- und Anti-Gender-Diskurse bilden eine wesentliche Grundlage der Weltanschauung des russkii mir und haben sich bei der kolonialen Expansion Russlands als wirksames Mittel erwiesen. Indem der Kreml das Engagement für Geschlechtergleichstellung, Feminismus und Frauenrechte sowie für Angehörige der LGBTQI+-Community als raffinierte Strategie des Westens zur Zerstörung der russischen Nation diffamiert, tritt er Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit mit Füßen, um seine eigene, auf „traditionellen Werten“ wie Frauenfeindlichkeit und Homophobie basierte Ordnung zu etablieren. Die Menschen in der Ukraine bemühen sich stattdessen nach besten Kräften, ihre nationale Identität zu bewahren und die Emanzipation der Geschlechter nach Vorbild der ukrainischen Frauenbewegung vor einem Jahrhundert voranzubringen. Frauen und queere Menschen spielen im ukrainischen Militär heute eine zentrale Rolle und stehen exemplarisch für einen Wandel hin zu mehr Inklusion und Gerechtigkeit.

Wenn wir neokoloniale Formen der Unterdrückung und Gewalt wirklich besiegen wollen, müssen wir gegen Anti-Gender-Bewegungen vorgehen und uns weltweit für Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung einsetzen. Denn ohne sie wird es nicht möglich sein, wahre Demokratie, Frieden, Sicherheit und Stabilität zu erreichen. Das dürfen wir nie vergessen.

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Literatur

Anderson , Benedict (1998): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin.

Bias, Leandra (2023): „The International of Antifeminists“, https://blogs.lse.ac.uk/gender/2023/02/24/4808/

Connell, Raewyn (2016): „Masculinities in Global Perspective: Hegemony, Contestation, and Changing Structures of Power“, Theory and Society, 45: 303–318, https://www.jstor.org/stable/44981834.

Freud, Sigmund (1930): „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Sigmunds Freuds Werke, Band 19, Wien.

Gorbatschow, Michail (1987): Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt.

María Lugones (2003), The Coloniality of Gender https://globalstudies.trinity.duke.edu/sites/globalstudies.trinity.duke.edu/files/file-attachments/v2d2_Lugones.pdf).

Martsenyuk, Tamara (2014): Гендерна соціологія Майдану: роль жінок в протестах. Постсоціалістичні суспільства: різноманіття соціальних змін: матеріали Міжнар. соціологічних читань пам’яті Н.В. Паніної та Т.І. Заславської, http://ekmair.ukma.edu.ua/handle/123456789/3511.

Orlova, Alexandra (2018): „Russian Politics of Masculinity and the Decay of Feminism: The Role of Dissent in Creating New ‚Local Norms‘“, William and Mary Journal of Race, Gender, and Social Justice, 25/1: 59–86, https://scholarship.law.wm.edu/wmjowl/vol25/iss1/4.

Phillips, Sarah D. (2014): „The Women’s Squad in Ukraine’s Protests: Feminism, Nationalism, and Militarism on the Maidan“, American Ethnologist, 41/3: 414–426, https://www.jstor.org/stable/24027362.

Quijano, Aníbal 2008): Colinality of Power Eurocentrism, and Latin America“, in: Coloniality at Large. Latin America and the Postcolonial Debate. Hgg.: Mabel Moraña , Enrique Dussel and Carlos A. Jáuregui https://www.decolonialtranslation.com/english/quijano-coloniality-of-po…

Restrepo, Eduardo (2018): „Coloniality of Power“, in: Hillary Callan (Hg.), The International Encyclopedia of Anthropology (New York: John Wiley & Sons, Ltd.), http://www.ram-wan.net/restrepo/documentos/coloniality.pdf.

Riabov, Oleg; Riabova, Tatiana (2014): „The Remasculinization of Russia? Gender, Nationalism, and the Legitimation of Power Under Vladimir Putin“, Problems of Post-Communism, 61/2: 23–35, http://dx.doi.org/10.2753/PPC1075-8216610202.

Riabczuk, Mykola (2010): „The Ukrainian ‚Friday‘ and the Russian ‚Robinson‘: the Uneasy Advent of Postcoloniality“, Canadian–American Slavic Studies, 44: 7–24, https://brill.com/view/journals/css/44/1-2/article-p7_2.xml.

Snyder, Timothy (2018): Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa, Amerika, München.

Voronova, Liudmila (2017): „Gender Politics of the ‚War of Narratives‘: Russian TV-news in th se Times of Conflict in Ukraine“, Catalan Journal of Communication & Cultural Studies, 9/2: 217–235, https://doi.org/10.1386/cjcs.9.2.217_1.

Wood, Elizabeth A. (2016): „Hypermasculinity as a Scenario of Power“, International Feminist Journal of Politics, 18/3, https://doi.org/10.1080/14616742.2015.1125649.

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1 Der Holodomor ist ein Genozid an der ukrainischen Bevölkerung, der weltweit von 28 Ländern anerkannt wird: Australien, Belgien, Bulgarien, Deutschland, Ecuador, Estland, Frankreich, Georgien, Großbritannien, Island, Kanada, Kolumbien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Mexiko, Moldau, Paraguay, Peru, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, USA.

2 Mankurt bezeichnet einen nicht denkenden, gefügigen, seiner Erinnerungen und Identität beraubten Menschen in der Sklaverei, den Tschingis Aitmatow mit seinem Roman Ein Tag länger als ein Leben populär gemacht hat.

4 Ich beziehe mich auf den bekannten Slogan „In der UdSSR gibt es keinen Sex“, mit dem das Stigma und die Scham sowie das öffentliche Tabu rund um das Thema Sexualität beschrieben wurde.

5 Orthodox im Sinne der ausschließlichen Zugehörigkeit zur Russisch-Orthodoxen Kirche, weil diese keinen anderen Zweig der Orthodoxie als gleichwertig anerkennt.

7 Vgl. ein von der argentinischen feministischen Philosophin María Lugones entwickeltes Konzept (https://globalstudies.trinity.duke.edu/sites/globalstudies.trinity.duke.edu/files/file-attachments/v2d2_Lugones.pdf).

10 Dieses Gesetz folgte auf das von 2013 bezgl. „homosexueller Propaganda“, das die Verbreitung von Informationen über „nicht traditionelle“ sexuelle Beziehungen zu Minderjährigen untersagte und zur Unterdrückung der Rechte und des Engagements der LGBTQI+-Community missbraucht wurde.

11 Ich verwende hier den Begriff ego conquiro aus Eduardo Restrepos Artikel „Coloniality of power” (Kolonialität der Macht).

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Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Hadeler.

Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Feminist Voices Connected.