Kohle

Literarischer Essay

El Cerrejón ist Lateinamerikas größter Steinkohletagebau. Er liefert die Kohle, damit Europa nicht frieren muss. Unsere Erde war niemals eine Frau – nur in den Augen Europas, das nichts anderes kennt als Penetration.

Illustration: Author of "Coal"

El Cerrejón ist Lateinamerikas größter Steinkohletagebau.1 Seine Gruben liegen im karibischen Teil Kolumbiens und schlucken so viel Wasser, dass sie einen ganzen Ozean austrocknen könnten. Die Mine hat ihren Namen von der hier einstmals heimischen Titanoboa cerrejonensis.2 Der Staub legt sich auf die Bettlaken, die Frauen zum Trocknen aufhängen, und das Essen auf den Tischen. Es gibt keine wirksamen Maßnahmen gegen dieses Eindringen.3 Während sich Uran- und Thoriumpartikel unter der Haut, im Herzen und in den Knochen der Menschen festsetzen, liefert El Cerrejón die nötige Kohle, damit Europa im Winter nicht frieren muss.4

Aus dem Mineral, das einst die Hitze zum Brotbacken lieferte, ist ein Gift geworden. Während man auf deutschen Straßen über Brennstoffmangel klagt, ist La Guajira dem Untergang geweiht. Vielleicht ist die Zeit noch nicht fortgeschritten, und die Täter*innen von einst sind noch da. Der Westen, weiß wie der Tod, muss die menschliche Fähigkeit zur Empathie noch erlernen.

Die Geschichte der Kohle ist fest wie ein Fels mit Kolumbien verbunden. Schon der Schriftsteller Manuel Zapata Olivella schrieb, dass unter der Ackerscholle Blut fließt. In Bittere Erde (Tierra Amarga), seinem ersten und einzigen Filmskript, erzählt der Maestro die Geschichte eines vom Bergbau zerrütteten Landes.5 Im Mittelpunkt stehen zwei Liebende und der Baudó-Fluss in Chocó.6 Ihre Haut bildet den Kontrast zwischen Himmel und Erde. Dieser Erzählung ging sein Romandebüt Tierra mojada (Nasse Erde) voraus. In der Anfangsszene dieses Frühwerks liegt der Tabak gerauchter Kippen auf dem Boden. Tabakblätter dienen seit Jahrhunderten, seit die Erde bitter wurde, als Brücke zwischen Menschen und Geistern.7

Tierra Mojada berichtet vom Leben einer Familie in Los Secos, einem allegorischen Ort an der Mündung des Sinú-Flusses, der den letzten bewohnbaren Boden entlang der karibischen Küste bildet. Nachdem der Grundbesitzer Jesús Espitia die Familie in die Armut getrieben hat, flüchten ihre Mitglieder in schlammige Gewässer. In der Nacht paddeln sie über den Fluss und halten einen Pilón, Stoff und ihren Hund fest umklammert, während sie die Strömung fast verschluckt. Schließlich erreichen sie die Sümpfe, und Olivella beschreibt, wie nach der Katastrophe der Tag anbricht: „Der Mond würde zurückkehren, rund und voll, wie eine Totuma-Schale.“8

Als den Grundbesitzer die Kunde vom fruchtbaren Land in Los Secos erreicht, segelt er los, um seine Prämie einzufordern. Doch der Geldgierige ahnt nicht, dass die Wasser entscheiden, wen sie kentern lassen oder zurückweisen. Und so ändert der Fluss, müde, Erträge zu bringen, seine Fließrichtung. Diese erfundenen Geschichten in Nasse Erde ebneten den Weg dafür, dass der Atrato-Fluss als erstes Gewässer in der kolumbianischen Geschichte zum Rechtssubjekt erklärt wurde. Der Wasserlauf wurde so zu einer juristischen Person.9 Über ihm prangte der Neumond. In dessen Schein werden auch heute noch unzählige Familien im Interesse des Kapitals vertrieben. Die Erzählung ist so alt wie die ersten Eroberungszüge, die sich heute mit der Suche nach Kohle fortsetzen. Aus El Cerrejón machen sich unzählige Angehörige der Wayuu in die Hauptstadt auf, um sich dort ein neues Leben aufzubauen.10

Der Westen, weiß wie der Tod, muss die menschliche Fähigkeit zur Empathie noch erlernen.

Zurück zu Bittere Erde. Eine junge Frau singt La Mina, ein Lied von „La Negra Grande de Colombia“, Leonor González Mina. Sie paddelt den Atrato entlang, während ein Bagger den Grund nach Edelmetallen durchpflügt. Sie singt: „Der Meister nimmt alles.“ Aus der Tiefe ihrer Kehle dringt durch die perlweißen Zähnen ein lautes Klagelied hervor über die Not, die eine versklavte Bergarbeiterin durch ihren Herrn erleidet. Nur wenigen kommt das Bild einer gebückten Frau in einer dunklen Höhle als Beweis dafür in den Sinn, dass Weiblichkeit nurmehr ein blasses Zerrbild ist. Heute schuften noch immer Frauen mit dunkler Haut für die Bequemlichkeit anderer Menschen. Hungernde Länder ernähren den Westen. Wir schweben über den Fluss und seine Mangroven, die Palmen und die Fischer hinweg.

Olivella hörte La Negra zum ersten Mal in seinem Haus in Lorica, in Bajo Sinú. Es wird erzählt, dass der Schriftsteller ihren Gesang für Vogelgezwitscher hielt. Daraufhin erklärte sich El Gran Putas – ein Pseudonym, das er seinem Changó gewidmeten Epos Changó, el gran putas verdankte – selbst zum Federvieh: „Ich fühlte mich plötzlich wie ein Vogel, der über den Cienega glitt, ein weißer Reiher, brauner Reiher, Garzipolo, Currao, Barraquete, Piscingo, alle feste Bewohner dieses Feuchtgebiets. Olivella begleitete die Sängerin auf ihrer Reise über die Ozeane. Sie besuchten Spanien, China und die Tschechoslowakei während der Ballett-Tournee seiner Schwester, der Tänzerin Delia Zapata Olivella.11

Delia trug weiß. Ihr Rock öffnete sich so weit wie die Kleider der Wayuu-Tänzerinnen beim traditionellen Yonna-Tanz in La Guajira. Er wird beim Übergang zum Frausein, bei Zeremonien und zur Offenbarung von Träumen getanzt. Frauen in roten Gewändern, der Farbe von Blut und Feuer, geben die Schritte vor. Die Männer tanzen rückwärts als Zeichen des Respekts. Beide ahmen den Rhythmus von Tieren nach: von Zamuro (Geier), Alcaraván (Triel), Ameise, Ziege und Rebhuhn. Sogar den von Fliegen, trotz ihrer offensichtlichen Unentschlossenheit. Eine Frau öffnet ihr Kleid mit beiden Händen. Der Mann macht einen Schritt zurück, um nicht mit ihr zusammenzustoßen. Schließlich geschieht es doch, und das Paar bricht zusammen, um dem nächsten Platz zu machen. Die Musik wird von der Kasha getrieben, einem trommelartigen Instrument aus Pinien- oder Kapokholz, das mit Ziegenleder überzogen ist und von Rindslederriemen zusammengehalten wird. Die Füße der Tanzenden erwecken die Wüste zum Leben. Der Sand mischt sich mit dem Salz von Manaure.12

Ich schreibe über Nasse Erde, La Mina und Delia, um die Beharrlichkeit eines Volkes zu preisen. Ich schreibe über Tänze in La Guajira, um das Leben dieser Menschen vor der Auslöschung zu bewahren. Von einer Wüste, die Mutter und Vater zugleich ist, ein zweigeschlechtliches Land. Unsere Erde war niemals eine Frau – nur in den Augen Europas, das nichts anderes kennt als Penetration. Die europäische Romantik brachte eine Natur mit Brüsten hervor, die es zu bezähmen galt. Sind die Blumen einmal verwelkt, schwingen sich die Täter zu Beschützern auf. Ihre wahnsinnigen Begierden sind verantwortlich für unsere Ermordeten.

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1 El Cerrejón ist einer der wichtigsten Kohlelieferanten der Europäischen Union. Der Tagebau, 1984 von Carbones de Colombia SA (Carbocol), der International Colombia Resources Corporation (Intercor) und Morrison-Knudsen eröffnet, fordert viele Opfer unter den Angehörigen der Wayuu, die in seiner Umgebung leben. Zurzeit wird der Tagebau von Glencore betrieben. Im Jahr 2023, seit Einführung der gegen Russland als Reaktion auf die Invasion in der Ukraine verhängten Brennstoff-Sanktionen, schluckt die Mine in der Wüste von La Guajira 24 Millionen Liter Wasser täglich. Die Steinkohle zerstört das Land und die Ressourcen einer ganzen Region, um Deutschland, die Schweiz und Großbritannien mit Strom und Wärme zu versorgen.

2 Die Riesenboa Titanoboa cerrejonensis konnte ein Krokodil mit einem Happs verschlingen. Die Schlange glitt durch die Wüste La Guajira, lebte in Flussläufen und Sümpfen und war das größte Raubtier in den Dschungeln des Paläozäns.

3 Das Gesetz, stets unzulänglich, kann nicht zurückholen, was sich ihm entzieht und was letztendlich das Wertvollste ist – das Leben. Amartya Sen vertrat 1981 in Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation die Auffassung, dass sich Hunger nicht mit einem Index messen lasse. Mit seinen Thesen zu Freiheit und gesellschaftlicher Entwicklung formulierte er völlig neue Variablen für Geopolitik, Menschenrechte und Wirtschaftswissenschaften.

4 In der Umgebung sind die Auswirkungen des Tagebaus deutlich zu spüren. Bei der Verbrennung von Rohkohle entsteht Flugasche mit einem hohen Gehalt an Uran und Thorium.

5 Manuel Zapata Olivellas Schwarzweißfilm Tierra Amarga erzählt von der heimlichen Romanze zwischen einem Minenarbeiter in Chocó und einer ausländischen Journalistin. Der Film zeigt in langen Einstellungen die Gesichter von Männern am Fluss Baudó. Ihre Figuren erinnern an Arnoldo Palacios‘ Fischer in Las estrellas son negras, der denselben Strom entlangpaddelt: „Er war über achtzig, hatte einen kleinen Kopf, und die glänzende Glatze seines schokoladenschwarzen Schädels war von Haarresten an den Ohren und am Nacken umgeben. In seinem knochigen Gesicht waren die Schläfen und Wangen tief eingesunken. Mit dunkelbraunen Augen blickte er sanft in die Welt. […] Das hagere, von Falten bedeckte Gesicht ließ eine Gleichmut, eine gewisse Verachtung für das Vergängliche und Vergebliche durchscheinen, eine strenge Verantwortung für das lange Leben, das ihn quälte, seit es ihm den ersten Lichtstrahl beschert hatte.“

6 Chocó bedeutet Gold in Aimara. Die Region umfasst den Darién-Dschungel, den Isthmus von Panama und die Einzugsgebiete der Flüsse Atrato, San Juan und Baudó. Die Moose entlang der Küste vom Pazifik zum Atlantik werden von den stärksten Regenfällen getränkt, die unsere Instrumente messen. Im Verlauf der Geschichte markierte der Goldabbau die Ankunft der Moderne und das Ende des prähispanischen Reichtums.

7 Im Rauch des Tabaks erscheinen Geister. Auf dem Cover des ersten Romans von Manuel Zapata Olivella, Tierra mojada, stehen zwei Männer und eine Frau mit gewundenen Gliedmaßen in grünem Wasser. Schon als junger Mann wollte Olivella Geschichten von Vertreibung erzählen. Er war zu Fuß durch Kolumbien gereist. Auf dem Güterwagen fuhr er zu einer Bananenplantage in Costa Rica, er schlief in Baumkronen und lebte im Exil in Liberia.

8 Ein Dschungel-Roman. Traditionell ist dieses Genre von Feuchtigkeit durchtränkt und berichtet von den Ereignissen eines einzigen Tages. Auch wenn Olivella seine Handlungen am liebsten in die Nacht verlegt, ist seine Sprache die der normalen Leute. Er schreibt von der lähmenden Mittagshitze, von Mahlzeiten und Insekten in den schlammigen Mangrovensümpfen.

9 Das Verfassungsgericht des Landes hat dem Atrato Rechtspersönlichkeit zuerkannt. Somit hat der Fluss Anspruch auf Schutz, Erhalt, Pflege und Renaturierung. Zu diesem Zweck erhielt er einen gesetzlichen Vertreter und ein Wächtergremium (Cuerpo Colegiado de Guardianes del Atrato). Letzteres setzt sich aus dem nationalen Umweltminister und 14 Vertreter*innen sieben regionaler Gemeinschaften zusammen.

10 Laut Berichten der kolumbianischen Regierung sind im Register der Opfer von Vertreibung in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1985 und dem 31. Dezember 2022 insgesamt 8.375.715 Menschen aufgeführt. Für Kolumbien ist die euro-amerikanische Modernisierung mit dem Verlust des gesamten wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Mehrwerts im Besitz der indigenen Bevölkerung und der Menschen afrikanischer Abstammung verbunden. Die euro-amerikanische Modernisierung nutzt Strategien der physischen Eliminierung und der kulturellen und ökologischen Zerstörung von Gebieten, um die Lebensbedingungen der ethnischen Gemeinschaften einzuschränken und zunichtezumachen. Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung haben in der Vergangenheit die Lebenswege der indigenen Gemeinschaften und der Menschen afrikanischer Abstammung in Kolumbien beschnitten – von ihrem Überleben ganz zu schweigen.

11 Calenda, das Ballett unter der Leitung von Delia Zapata Olivella, war dem obligatorischen Ruhetag der versklavten Menschen in der spanischen Kolonie Cartagena gewidmet. Einmal im Jahr wurde ihnen dieser Tag gewährt.

12 Die Salzminen sind rosafarben. Dank ihrer Pigmente können Bakterien, Archaeen und Algen in Sonnenlicht und Wind gedeihen. Nach dem Mahlen werden die rosaroten Kristalle zu weißem Granulat – auch bekannt als weißes Gold.

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Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Hadeler.

Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Feminist Voices Connected.