Deutschland: Fürsorge statt Festungen

Kommentar

Sicherheit ist ein großes – aufgeladenes – Wort. In sozialen Medien, Zeitungsberichten oder auch im letzten Wahlkampf geht es beim Thema Sicherheit meist um Waffen, Grenzen oder Kontrolle, um Migrations-, Außen- und Sicherheitspolitik.

Illustration: Vor grünem Grund ist ein blutender Uterus.

Was in diesem politischen Diskurs gänzlich unsichtbar bleibt: die alltäglichen Unsicherheiten derer, die keine „Leitkultur“, kein Land und kein Eigentum schützen, sondern Leben sichern. Die Frau, die vier Kinder großzieht und ihre Schwiegermutter pflegt. Die Jugendliche, die sich um ihren depressiven Vater kümmert. Die 24-Stunden-Pflegekraft aus Rumänien, deren Kinder zu Hause von der Großmutter betreut werden, während sie hier einen Pflegebedürftigen versorgt. Auch sie brauchen Sicherheit – nicht durch mehr Militär oder Vorurteile oder Restriktionen, sondern durch Gerechtigkeit, Absicherung, Teilhabe. 

 Sicherheit beginnt nicht an nationalen Grenzen, sondern im Alltag der Menschen.

„Warum schützt man die Grenzen der Staaten so gut und die Grenzen der Menschen so schlecht?“, fragt Dota Kehr in einem Lied[1]. Dieser Frage schließe ich mich an und finde für mich folgende Antwort: Sicherheit beginnt nicht an nationalen Grenzen, sondern im Alltag der Menschen. Sie bedeutet: ein Dach über dem Kopf, ein verlässliches Einkommen, körperliche Unversehrtheit, Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Doch diese Sicherheit steht in Deutschland nicht allen gleichermaßen zu. Sie ist höchst ungleich verteilt – zwischen Geschlechtern, Klassen, Herkunft, Hautfarben, zwischen dem, was als „normal“ gilt (meist weiß, männlich, hetero, Kleinfamilie), und dem, was davon abweicht.

Wer Sorgeverantwortung trägt, weiß, wie schnell Sicherheit kippen kann: wenn die Betreuung in der Kita wegen hohen Krankenstands ausfällt und deshalb der selbstständigen Tätigkeit nicht nachgegangen werden kann; wenn die Wohnung für die wachsende Familie zu klein wird, aber es keine Hoffnung auf Umzug und mehr Platz gibt; wenn der Lohn am Ende des Monats nicht reicht, um zu klein gewordene Schuhe der Kinder zu ersetzen. Sorgearbeit – die dem Leben zugrundeliegende Arbeit – ist für uns alle existenziell. Ohne sie kein Frühstück, kein gewickeltes Kind, keine getröstete Träne. Sie wird überwiegend von Frauen geleistet – unsichtbar und unbezahlt im Privaten[2], unterbezahlt in SAGE-Berufen[3][4]. In beiden Sphären bleibt sie strukturell abgewertet. 

Und obwohl Menschen mit Sorgeverantwortung Großes leisten, greift auch bei ihnen – wenn sie Bürgergeld erhalten, weil sie etwa ihren schlechten Lohn aufstocken müssen oder neben der Sorgearbeit nur in Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig sein können – das weit verbreitete Vorurteil von der „sozialen Hängematte, in der sie sich ausruhen“. Dieses Narrativ bedient Bundeskanzler Merz, indem er öffentlich postuliert, dass so ein „Sozialstaat heute nicht mehr finanzierbar“[5] sei und fordert, „wer arbeiten kann, soll auch arbeiten“[6]. Er meint damit ausschließlich Erwerbsarbeit – nicht Sorgearbeit.

Herr Merz vergisst bei seiner Empörung, dass auch der Tag von Menschen mit Sorgeverantwortung nur 24 Stunden lang ist.

Darüber hinaus fehlen schlicht Fachkräfte und Betreuungsplätze, die diese Bürgergeldempfänger*innen und Aufstocker*innen entlasten und ihnen mehr Zeit für Erwerbsarbeit verschaffen könnten. Herr Merz vergisst bei seiner Empörung, dass auch der Tag von Menschen mit Sorgeverantwortung nur 24 Stunden lang ist. Viele von diesen Menschen fühlen sich nicht sicher und haben Existenzängste. Ganz nach neoliberalen Denkmustern, staatliche Verantwortung auf Individuen zu übertragen, wird soziale Not nicht als strukturelles Problem, sondern als persönliches Versagen dargestellt – mit dem Effekt, dass sich Betroffene schämen (sollen).

Dabei leisten sie Arbeit, die entscheidend für das Sicherheitsgefühl der Menschen ist, um die sie sich kümmern. Wer sorgt, kann oft nicht für sich selbst sorgen. Wer kümmert sich also um die Sorgenden? Bietet ihnen Sicherheit? 

Sorgearbeit bedeutet emotionale Verantwortung, körperliche Belastung, zeitliche Abhängigkeit – und ist gleichzeitig ökonomisch kaum abgesichert. Eine doppelte Unsichtbarkeit, eine doppelte Verletzlichkeit. Merz tritt nach unten und droht den „arbeitslosen Schmarotzer*innen im Sozialsystem“ Leistungen zu kürzen und will gleichzeitig den Jobcentern Mittel für Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt streichen. Was ein Paradox! Wofür aber Geld da ist: Dienstwagenprivileg und Pendlerpauschale, von denen insbesondere Gutverdienende profitieren oder Milliarden-Subventionen für Großunternehmen. 

Wer in unserer Gesellschaft als „wertvoll“ gilt, bemessen Merz & Co in erster Linie an der Leistung, die in der Erwerbsarbeit erbracht wird. Alles, was nicht als Erwerbsarbeit zählt, wird bestenfalls als „privat“ bezeichnet – schlimmstenfalls als „nicht produktiv“. Das betrifft vor allem Sorgearbeit. Die ökonomische Abwertung von Care ist kein Versehen, sondern dem patriarchalen und kapitalistischen System immanent.

Für viele ist Unsicherheit Alltag: Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderung, in Armut, in Gewaltbeziehungen, queere Menschen, nicht-binäre Eltern. Sie alle wissen: Der Schutz des Staates gilt nicht für alle gleichermaßen. Die Frage ist also: Wessen Leben zählt? Für wen wird Sicherheit ermöglicht?

Staatlich garantierte Sicherheit ist eng verknüpft mit Kontrolle, Ressentiments, Abwehr. Sie dient der Sicherung von Eigentum – nicht der Menschenwürde. Unter dem Deckmantel der Sicherheit wird ausgeschlossen, überwacht, ausgegrenzt. Eine beliebte Strategie, die vom eigentlichen Problem ablenkt, ist, dass Menschengruppen gegeneinander ausgespielt und Neiddebatten angestoßen werden. Hass gegen Frauen, gegen Geflüchtete, gegen Trans*-Personen nimmt zu; wir erleben einen Rechtsruck und Backlash. 

Eine Politik, die fiktive Ängste im Alltag weiter schürt, anstatt die realen Sorgen mit gerechten und wirksamen Maßnahmen ernst zu nehmen, ist absolut kurzsichtig und kann auf Dauer nicht funktionieren. 

Wir sehen heute schon: Immer mehr Menschen vermeiden Sorgeverantwortung – die Geburtenrate sinkt. Aus Angst vor finanzieller Überforderung. Aus Angst, keine Wohnung zu finden. Aus Angst, dass es kein Morgen gibt – weil wir unsere Erde nicht schützen, weil der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet und weil insbesondere Müttern ein enormer Druck aufgebürdet wird.[7] Die Zukunft wirkt düster – viele Menschen möchten in eine solche Welt keine Kinder mehr setzen.

Deshalb wünsche ich mir für die Zukunft eine feministische Sicherheitswende. Sicherheit besteht dann aus Beziehung, aus Fürsorge, aus dem Wissen: Ich bin nicht allein. Wer sicher leben will, braucht Zugang zu Wohnraum, Bildung, Gesundheitsversorgung, Schutz vor Gewalt und Diskriminierung – und die Möglichkeit, für andere zu sorgen, ohne selbst unterzugehen. Sicherheit heißt also auch: Zeit, Geld, Infrastruktur.

Für eine feministische Sicherheitswende, die Sorgeverantwortung im Blick hat, braucht es politische Veränderungen:

  • Mehr soziale Gerechtigkeit: Reichtum muss umverteilt werden. So klappt das auch mit einem Sozialstaat.
  • Die Erwerbsarbeit muss sich um das Familienleben herum organisieren – nicht umgekehrt.
  • Private Sorgearbeit muss gesellschaftlich und finanziell anerkannt werden und geschlechtergerechter werden.
  • Berufe im Care-Sektor brauchen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen.
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Die verschiedenen Pay Gaps[8] müssen geschlossen werden.
  • Wichtig sind sorgesensible Arbeitszeiten, auch in Care-Berufen.
  • Es braucht ein gerechtes Elterngeld und ein armutsfestes Familienpflegegeld.
  • Ehegattensplitting und Steuerklasse V gehören abgeschafft.
  • Infrastruktur für Betreuung, Pflege und Bildung müssen ausgebaut
  • und: eine echte Kindergrundsicherung muss eingeführt werden.

In einer vielfältigen, geschlechtergerechten Gesellschaft werden alle Familienformen rechtlich und sozial abgesichert – ob Mehrelternschaft, Care-Community oder Alleinerziehenden-WG. Das ZFF steht für einen weiten Familienbegriff: Familie ist dort, wo Menschen verbindlich füreinander Verantwortung übernehmen, Sorge tragen und Zuwendung schenken. Diese Definition muss Grundlage werden.

Gleichzeitig gilt: Nicht für alle ist staatliche Sicherheit erreichbar oder wünschenswert. Wer Autonomie wünscht oder braucht, soll die Wahl haben, andere Formen von Schutz und Sicherheit zu entwickeln – in Sorge-Netzwerken, solidarischen WGs, Patchwork- und Mehrelternfamilien. Sie zeigen: Unsicherheit kann auch Freiheit bedeuten – wenn sie auf mehreren Schultern geteilt wird. Wenn aus Verwundbarkeit Fürsorge wird. Wenn Sicherheit nicht Kontrolle heißt, sondern Beziehung.

Sicherheit muss das Ergebnis von Solidarität sein. Und sie muss so gedacht werden, dass sie alle mit meint – auch jene, die zu oft übersehen oder ausgeblendet werden.

Ein Staat, der für alle sorgt, die fürsorgen, schafft Sicherheit für alle.

 

[1] Der Song ‚Grenzen‘ ist der Diskursbeitrag der Berliner Band DOTA zu Rechtsruck und Flüchtlingsthema. Ein bedingungsloses Plädoyer für Menschlichkeit und ein gut durchdachter Text, der dem aktuellen Elend ein Stück hoffnungsvolle Vision entgegen trotzt: ‚Ich melde mich ab, ich will einen Pass, wo Erdenbewohner drin steht…‘ „

[2] Gender Care Gap 2022: Frauen leisten 44,3 % mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Quelle: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/02/PD24_073_63991.html [aufgerufen am 10.09.2025].

[3] SAGE steht für Soziale Arbeit, Gesundheit und Erziehung. Der Begriff SAGE-Berufe umfasst alle bezahlten Tätigkeiten, in denen Care-Arbeit im Zentrum steht – darunter etwa Pflege, Erziehungsarbeit, Sozialarbeit oder unterstützende Assistenzdienste.

[4] Erwerbsbeteiligung von Frauen nach Berufen. Quelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/erwerbsbeteiligung-frauen-berufe.html [aufgerufen am 10.09.2025].

[5] Dieses Zitat stammt aus einer Rede von Bundeskanzler Friedrich Merz beim 61. Landesparteitag der CDU Niedersachsen in Osnabrück am 230.08.2028.

[6] Dieses Zitat stammt aus einer Rede von Bundeskanzler Friedrich Merz auf der Regionalkonferenz zum neuen CDU-Grundsatzprogramm am 01.03.2024

[7] Vgl. UNFPA, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen und Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) (2025): Weltbevölkerungsbericht 2025. Deutsche Kurzfassung. Fertilität im Fadenkreuz.

[8] Der Gender Pay Gap beschreibt die Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen. Im Jahr 2023 lag der unbereinigte Unterschied laut Statistischem Bundesamt bei 18 Prozent, der bereinigte Wert – der Unterschiede etwa bei Beruf oder Qualifikation berücksichtigt – bei 6 Prozent.

Ähnliche Ungleichheiten zeigen sich beim Migration Pay Gap: Laut dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) verdienten ausländische Männer rund 11 Prozent, ausländische Frauen sogar 20 Prozent weniger als ihre deutschen Vergleichsgruppen. Auch nach Bereinigung blieben Lücken von 5,8 Prozent (Männer) und 17,6 Prozent (Frauen) bestehen. Selbst unter deutschen Staatsangehörigen mit und ohne Migrationshintergrund wurden deutliche Differenzen gemessen: 16,5 Prozent bei Männern, 14,8 Prozent bei Frauen. Quelle: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Glossar_Entgeltgleichheit/DE/19_Migration_Pay_Gap.html [aufgerufen am 10.09.2025]