Töchter, Panzer, Sicherheit – Zur Rhetorik der Ausgrenzung

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Friedrich Merz spricht vom „Problem im Stadtbild“ und meint migrantische Männer. Was als Sicherheitsrhetorik daherkommt, ist die Vorbereitung staatlicher Gewalt – nach außen und nach innen. Ein Text über Militarisierung, Femonationalismus und die Frage, wer in dieser Gesellschaft eigentlich als gefährlich gilt.

Eine illustrierte Überwachungskamera blickt mit einem menschlichen Auge.

Wenn nicht mehr marode Infrastruktur, kaputtgesparte Kommunen oder soziale Kälte als Problem gelten, sondern bestimmte Körper und Viertel, dann ist das kein schlichtes Ordnungssprechen. Es ist die Vorbereitung auf Ausschluss und staatlich organisierte Gewalt.

Als Bundeskanzler Friedrich Merz am 14. Oktober 2025 bei einer Pressekonferenz in Brandenburg vom „Problem im Stadtbild“ sprach und dabei ausdrücklich migrantische Männer zur Chiffre für Unsicherheit machte, war das kein verbaler Ausrutscher. Sondern eine politische Weichenstellung. „Deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen“, fügte er hinzu. Wenn nicht mehr marode Infrastruktur, kaputtgesparte Kommunen oder soziale Kälte als Problem gelten, sondern bestimmte Körper und Viertel, dann ist das kein schlichtes Ordnungssprechen. Es ist die Vorbereitung auf Ausschluss und staatlich organisierte Gewalt.

Die Tochter als Grenzmarkierung

Besonders deutlich wurde das, als Merz seine Aussage nach unmittelbarer Kritik noch verschärfte: Man könne ja „die eigenen Töchter fragen“, wie sicher sie sich in bestimmten Stadtteilen fühlten. In diesem Satz verdichtet sich ein rassistisches Narrativ. Die „Tochter“ wird zur Schutzfigur der Nation stilisiert, zur Projektionsfläche männlich-nationaler Gewaltfantasien. Der mutmaßliche Täter ist dabei längst imaginiert: der fremde, arme, rassifizierte Mann. Diese Figur steht stellvertretend für alles, was als Bedrohung gilt, während patriarchale Gewalt in den eigenen vier Wänden – durch Partner, Väter, Bekannte – weiterhin unsichtbar bleibt. Dass 2024 ein neuer Höchststand häuslicher Gewalt verzeichnet wurde, passt nicht in diese Erzählung.

 Der weibliche Körper wird zur Grenzmarkierung der Nation, der nicht-weiße männliche Körper zur verkörperten Bedrohung.

Doch der Subtext ist altbekannt: Die Gefahr kommt angeblich von außen und sie richtet sich gegen „unsere Frauen“. Der weibliche Körper wird zur Grenzmarkierung der Nation, der nicht-weiße männliche Körper zur verkörperten Bedrohung. Parallel dazu entsteht eine Sicherheitsarchitektur[1], die längst nicht mehr nur nach außen zielt, sondern nach innen: gegen Arme, gegen Abweichende, gegen Ungehorsame – und damit auch gegen Frauen und Queers, die in diesem Klima nicht sicherer, sondern verletzlicher werden.

Marginalisierte Viertel als Reservearmee und Feindgebiet

Die Aussage von Merz ist Teil eines autoritären Rucks und einer umfassenden Aufrüstungskampagne, die Öffentlichkeit und Privates gleichermaßen durchzieht: neue Wehrpflichtmodelle, Appelle zur Kriegstüchtigkeit, die Normalisierung militärischer Logiken im Alltag. Auch Städte verwandeln sich zunehmend in militärisch durchleuchtete Räume: mehr Polizei, mehr Überwachung, mehr verdachtsunabhängige Kontrollen. Der 'gefährliche Ort' ist nicht länger geografisch, sondern körperlich markiert. Die Grenze von Feind und Freund verläuft nicht mehr zwischen Staaten, sondern zwischen Körpern.

Nicht weit von meinem Wohnort, in Köln-Mülheim, errichtet die Bundeswehr eine neue Panzerzentrale. Mülheim ist ein Ort, den Friedrich Merz vermutlich als „missglücktes Stadtbild“ beschreiben würde: ein ehemaliges Arbeiter*innenviertel, das in den 1980er und 1990er Jahren systematisch deindustrialisiert wurde. Fabriken schlossen, Arbeitsplätze und soziale Infrastruktur verschwanden. Heute leben in Mülheim viele arbeitslose, migrantische und geflüchtete Menschen – jene, die aus marxistischer Perspektive als „industrielle Reservearmee“ gelten. Sie sind flexibel verfügbar und jederzeit reaktivierbar, wenn Wirtschaft und Aufrüstung neue Arbeitskräfte brauchen. Diese Menschen taugen nicht für Merz’ sauerländische Heimatidylle, sondern als Rohmaterial der Kriegstüchtigkeit. Und dafür werden sie vorbereitet: sozial abgehängt, polizeilich verdichtet und gefügig gemacht.

Militarisierung nach außen und Prekarisierung nach innen sind zwei Seiten derselben Medaille.

Die Instrumentalisierung feministischer Politik

Was bedeutet es für Frauen und Queers, wenn die Militarisierung alle Lebensbereiche durchdringt? Deutschland erlebt das Comeback eines soldatischen Männlichkeitsbildes: der Mann als Beschützer, bereit, zur Waffe zu greifen. Auf der anderen Seite steht die Frau, erneut in die Rolle der passiven Schutzbedürftigen und der Pflegenden gedrängt. Denn wenn der Staat Pflegestrukturen abbaut – Kitas, Pflege, soziale Dienste –, um Aufrüstung zu finanzieren, verlagert sich diese Arbeit ins Private. Sie bleibt als unbezahlte Care-Arbeit wie üblich an Frauen hängen. Militarisierung nach außen und Prekarisierung nach innen sind zwei Seiten derselben Medaille.

Vor diesem Hintergrund wirkt es zynisch, wenn linksliberale Stimmen fordern, die Bundeswehr müsse „weiblicher“ werden, wie Stefanie Lohaus, Gründerin des feministischen Missy Magazine. Die Umdeutung feministischer Anliegen in Ressourcen für nationale Machtpolitik nennt sich Femonationalismus. Frauen und queere Menschen sollen nicht befreit, sondern funktionalisiert werden – als modernes Gesicht einer alten Gewaltlogik.

Als Antwort auf Merz‘ Stadtbild-Aussage veröffentlichten außerdem zahlreiche prominente Frauen aus Kunst, Wissenschaft und Politik einen offenen Brief mit dem Titel „Wir sind die Töchter“. Er enthielt berechtigte Forderungen nach finanzieller Unabhängigkeit für Frauen und der Bekämpfung von Altersarmut, aber auch nach mehr Überwachung im öffentlichen Raum und erweiterten Polizeibefugnissen. Dieser Appell normalisierte das rassistische Grundnarrativ, anstatt es zu dekonstruieren: Indem er Merz' Rahmung des Problems übernahm – Unsicherheit für Frauen im öffentlichen Raum bestimmter Stadtviertel – und mit Forderungen nach mehr Polizeipräsenz beantwortete, reproduzierte er die Logik, dass die Gefahr von außen kommt. Marginalität und Migration bleiben so mit Bedrohung verknüpft, nun legitimiert durch einen scheinbar feministischen Sicherheitsdiskurs, der in der Praxis vor allem marginalisierte Menschen trifft. 

Abolitionismus: Eine andere Sicherheit

Abolitionistische[2] Feminist*innen kritisieren dabei seit Jahrzehnten, dass die Antwort auf patriarchale Gewalt nicht mehr staatliche Gewalt sein kann. In Abolition. Feminism. Now. schreiben Angela Davis, Beth E. Richie und Erica R. Meiners gegen die falsche Alternative an: entweder Überwachung oder patriarchale Gewalt. Stattdessen formulieren sie eine radikale Doppelstrategie: Unterstützung von Überlebenden, reale Verantwortungsübernahme von Tätern – ohne den Ausbau der Gewaltapparate.

Immer wieder zeigen Fälle tödlicher Polizeigewalt, dass gerade marginalisierte Menschen in Krisensituationen durch staatliche Gewalt in Lebensgefahr geraten.

Denn mehr Überwachung trifft auch prekäre, rassifizierte Frauen und Queers. Immer wieder zeigen Fälle tödlicher Polizeigewalt, dass gerade marginalisierte Menschen in Krisensituationen durch staatliche Gewalt in Lebensgefahr geraten. Im Mai 2011 wurde die 40-jährige Christy Schwundeck, eine Schwarze Frau, die zuvor erfolglos beim Jobcenter zehn Euro gefordert hatte, durch eine Polizeikugel in den Bauch erschossen. Im November 2025 verletzte die Polizei ein zwölfjähriges, gehörloses Mädchen lebensgefährlich mit einem Schuss in den Bauch. In beiden Fällen behauptet die Polizei, die Betroffenen seien mit Messern bewaffnet gewesen. Hinzu kommt der Fall der geflüchteten Schwarzen Transfrau Cleo. Die 38-Jährige wohnte in einer Potsdamer Geflüchtetenunterkunft, als sie in einem fragwürdigen Indizienprozess zu zwölf Jahren Haft in einem Männergefängnis verurteilt wurde.

Eine feministische Antwort auf Merz’ Stadtbildrhetorik kann daher nicht mehr Polizei, mehr Waffen und mehr Abschottung lauten. Sondern mehr soziale Sicherheit

„Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Organisierung zur Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt die Arbeit gegen den industriellen Gefängniskomplex einschließen muss“, schreiben indes die Autorinnen von Abolition. Feminism. Now.„gegen Grenzpatrouillen, gegen die Inhaftierung von Behinderten, gegen die Kriminalisierung von radikaldemokratischem Protest – und ebenso zentral: für gegenseitige Hilfe, polizeifreie Schulen, reproduktive Gerechtigkeit und die Würde von Trans*-Leben.“

Eine feministische Antwort auf Merz’ Stadtbildrhetorik kann daher nicht mehr Polizei, mehr Waffen und mehr Abschottung lauten. Sondern mehr soziale Sicherheit. Mehr Solidarität statt Verdacht. Mehr offene Räume statt kontrollierter Zonen. Mehr feministische Selbstorganisation in Stadtvierteln. Sie muss patriarchale Gewalt dort bekämpfen, wo sie tatsächlich stattfindet: in Familien, Beziehungen, Institutionen – und in den Gewaltapparaten selbst. Sie muss sich gegen den Krieg nach außen wenden und gegen den Krieg nach innen.

Denn wahre Sicherheit entsteht nicht durch Panzer in Arbeiter*innenvierteln und Kameras über Straßenzügen. Sie entsteht dort, wo Menschen nicht als Gefahr gelten, sondern als Teil eines gemeinsamen, unteilbaren Lebens.


[1] Sicherheitsarchitektur bezeichnet das Gesamtsystem staatlicher Maßnahmen und räumlicher Gestaltung, die mit dem Versprechen von Sicherheit legitimiert werden: Polizei, Überwachungskameras, Grenzkontrollen, Abschiebungen, aber auch die Planung öffentlicher Räume durch Zugangsbeschränkungen, Verdrängung und gezielte Bebauung. Der Begriff macht sichtbar, dass Sicherheitspolitik nicht nur durch Institutionen, sondern auch durch die Gestaltung von Städten und Vierteln wirkt.

[2] Abolitionismus bezeichnet ursprünglich die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. In aktuellen sozialen Bewegungen bezieht sich Abolitionismus vordergründig auf die Forderung, Polizei und Gefängnissysteme abzuschaffen und durch gemeinschaftsbasierte Pflege-Strukturen, Konfliktlösungsmechanismen und soziale Investitionen (Bildung, Gesundheit, Wohnraum) zu ersetzen. Die verbindende Logik: Bestimmte gewaltförmige Institutionen sind nicht reformierbar, sondern müssen durch grundlegend andere Ansätze ersetzt werden, die auf Fürsorge statt Bestrafung basieren.