„Sicherheit darf nicht als Gegenstück von Freiheit verstanden werden“- Warum wir einen freiheitsrechtlichen Sicherheitsbegriff brauchen

Interview

Im Namen von „Sicherheit“ werden Freiheiten eingeschränkt – auch in Deutschland. Im Interview sprechen wir darüber, welche politischen Strategien dahinterstehen, wie diese Entwicklungen global zusammenhängen und was ein feministischer Sicherheitsbegriff wäre, der Menschenrechte und Freiheit tatsächlich schützt.

Illustration: Vor rosa Grund ist ein ist ein grüngelber Schirm.

Paula Zimmermann ist Juristin und Referentin für Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei Amnesty International. Sie arbeitet zu Fragen rund um Grund- und Menschenrechte und auch zu völkerrechtlichen Fragen mit einem Schwerpunkt auf dem Recht auf Protest und den sogenannten „Shrinking Spaces“, dem Schrumpfen von zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräumen und allgemein zu autoritären Praktiken. 

Das Interview führte Amina Nolte, Referentin für Feminismus am Gunda-Werner-Institut (GWI)

GWI: Unser Dossier beschäftigt sich mit feministischen Perspektiven auf das Thema Sicherheit. Wir wollen einen kritischen Blick auf die Verwendung des Sicherheits-Begriffs werfen, der in Politik und Gesellschaft gerade so virulent ist. Was kommt Dir in den Sinn, wenn Du feministische Perspektiven auf Sicherheit hörst? An welche Debatten und Diskurse denkst Du?

Paula Zimmermann: Aktuell denke ich da tatsächlich an die sogenannte „Stadtbilddebatte“. Vor allen Dingen an die Antwort von Friedrich Merz auf Nachfrage eines Journalisten hin, man möge doch die Töchter fragen, was sie als Sicherheitsbedrohung wahrnehmen. Damit impliziert er ja, dass vor allem die „deutschen weißen Töchter“, also Frauen, sich maßgeblich von jungen Muslimen bedroht fühlen, von potenziell Geflüchteten. Das da in Stellung zu bringen, finde ich grundrechtlich höchst problematisch und das ist eine rassistische Zuschreibung. 

Dann beschäftigt mich noch eine Nichtdebatte, also eine nicht geführte Debatte: die rund um Femizide. 

Femizide sind tatsächlich ein Sicherheitsrisiko für die körperliche Unversehrtheit und das Leben von Frauen in Deutschland. Die Zahlen steigen. Aber im allgemeinen politischen Diskurs kommt die Debatte rund um Femizide nicht vor.

 Zum Kontext der Stadtbilddebatte auch noch mal der Fakt, dass Friedrich Merz, - unser Bundeskanzler - 1997 dagegen gestimmt hat, dass die Vergewaltigung in der Ehe kriminalisiert wird. Der angebliche Schutz von Frauen wird instrumentalisiert, um Stereotype zu reproduzieren. 

GWI: Ein Argument von unserem Sicherheitsdossier ist, dass mit Sicherheit Politik gemacht wird. Und dass Felder, die traditionell eigentlich nicht mit Sicherheit in Verbindung gebracht werden, ausgeweitet und plötzlich als Sicherheitsprobleme gelabelt werden. Mit Sicherheit soll politisch und gesellschaftlich Freiheit geschützt werden, so der Claim. Was beobachtest du denn im Rahmen deiner Arbeit bei Amnesty diesbezüglich in den vergangenen Jahren und Monaten, auch gerade mit Bezug auf das Vorgehen von Staat und Institutionen in Deutschland? 

Paula Zimmermann:

Wir sehen eine Erosion der Freiheit im Namen der Sicherheit 

– oder vermeintlicher Sicherheit. Es gibt zunehmende Grundrechtseinschränkungen, die wir als Amnesty International als unverhältnismäßig und damit als Menschenrechtsverletzungen deklarieren würden.

Das zeigt sich auf legislativer Ebene durch die Ausweitung der Befugnisse von Polizei und Sicherheitsbehörden. Auf Landesebene wurden in den Landespolizei- und Versammlungsgesetzen in den letzten Jahren Kontroll- und Eingriffsbefugnisse der Polizei massiv ausgeweitet, nicht zuletzt im Versammlungskontext.

Man sieht außerdem, dass bestimmte Räume, die zuvor nicht sicherheitspolitisch relevant waren und als klassische staatsfreie Räume galten, zunehmend reguliert werden sollen. Ein Beispiel ist der Protestraum, also die Versammlung, die eigentlich klassisch ein staatsfreier Raum ist. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts. Nun wird immer stärker versucht, polizeiliche Befugnisse auch dort einzuführen.

Interessant ist zudem die Versicherheitlichung von Schulen und Hochschulen. Im Januar gab es die sogenannte Antisemitismus-Resolution 2.0 im Bundestag, speziell für den Schul- und Hochschulbetrieb. Darin wird gefordert, dass Schulen und Hochschulen verstärkt mit dem Verfassungsschutz kooperieren sollen. Es soll Sicherheitskonzepte geben, und generell soll an Hochschulen mehr überwacht werden. Solche Räume werden plötzlich zu einem ordnungsrechtlichen oder sicherheitspolitischen Thema.

Ich finde, man erkennt diese Entwicklung auch an einer starken Verschränkung mit der Anti-Migrations-Agenda. Über sicherheitspolitische Diskurse werden rassistische Stereotype reproduziert oder in Stellung gebracht: Es gibt immer mehr Maßnahmen wie Racial Profiling, also anlasslose Kontrollen aufgrund rassistischer Zuschreibungen. Hinzu kommen die Debatten rund um Waffenverbotszonen, kriminalitätsbelastete Orte oder Clankriminalität.

Zudem wird inzwischen wissenschaftlich beschrieben, was als sogenannte „Krimigration“ bekannt ist: die Kriminalisierung von Migration an sich

Besonders in meinem Arbeitsbereich zeigt sich das in der Instrumentalisierung von Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht, um die Ausübung von Grundrechten einzuschränken oder zu sanktionieren.

Wenn zum Beispiel Personen abgeschoben werden sollen, weil sie sich an Palästina-solidarischen Protesten beteiligt haben, wird deutlich, dass eine Form von Zugehörigkeit zu Deutschland neu verhandelt wird.

GWI: Hast Du den Eindruck, dass die Sicherheiten von bestimmten Gruppen auch gegeneinander in Stellung gebracht werden? Du hattest jetzt schon über die Resolution zum Schutz jüdischen Lebens gesprochen, über Palästina-solidarische Proteste. Wäre das eine Beobachtung, die Du teilen würdest?

Paula Zimmermann: Ja, auf jeden Fall.

Ich habe das Gefühl, dass im sicherheitspolitischen Diskurs die Sicherheit einer Mehrheitsgesellschaft verteidigt wird, die sich immer auch über „das Andere“ konstituiert.

In meinem Arbeitsbereich ist dieses „Andere“ häufig das Feindbild politisch Protestierender. Das zeigt sich deutlich in ihrer Markierung mit Begriffen wie Chaos, Terror oder Krawall. Dann werden daraus „Ökoterroristen“ oder die „Klima-RAF“.

Ein besonders starkes Feindbild entsteht zudem im Kontext junger Muslime bei Palästina-solidarischen Protesten. Im vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus – der natürlich ein legitimes Anliegen ist, weil die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland geschützt werden muss – wird dieses Anliegen jedoch oft dezidiert gegen Migrant*innen und junge Muslim*innen gerichtet. Über das Narrativ des „importierten Antisemitismus“ werden sie zum Sicherheitsproblem erklärt.

Das sieht man zum Beispiel in den Versammlungsbescheiden rund um den Nakba-Tag in Berlin, also bereits vor dem 7. Oktober 2023. In einem Verbotsbescheid heißt es etwa, die „grundsätzlich emotionalisierte und gewaltbereite junge arabische Diaspora in Berlin-Neukölln“. Damit verbunden ist eine starke Zuschreibung von Gewalt und Krawall gegenüber der libanesischen, syrischen und palästinensischen Diaspora in Neukölln. Diese Zuschreibungen schlagen sich dann in Versammlungsbescheiden nieder und zunehmend auch im Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht.

So wird im Koalitionsvertrag etwa eine Regelausweisung bei „antisemitisch motivierten Straftaten“ gefordert. Das ist ein sehr weiter und unbestimmter Rechtsbegriff. Wenn man sich anschaut, wie die IHRA- Definition (kurz für: International Holocaust Remembrance Alliance) von Antisemitismus als politisches Regulierungsinstrument eingeführt wird, erkennt man, dass auch von der Meinungsfreiheit geschützte Israelkritik darunterfallen kann. Das hat für Personen, die sich an Versammlungen beteiligen, potenziell existenzielle Folgen, weil sie rechtliche Konsequenzen fürchten müssen. Hinzu kommen Debatten über Denaturalisierung, also den Entzug der Staatsangehörigkeit. All dies zeigt, wie sich Feindbilder auch auf der rechtlichen Ebene und besonders im Versammlungskontext niederschlagen.

GWI: Du hast jetzt zu Palästina-solidarischen Protesten schon etwas gesagt. Kannst du das auch noch einmal in Bezug auf die Klimabewegung erläutern? Du hast angedeutet, dass es auch dort eine Form der Kriminalisierung gibt. Kannst du ausführen, welche Beobachtungen es dazu gibt und welche Vorstellungen von Sicherheit dabei gegeneinander in Stellung gebracht werden?

Paula Zimmermann

Auch da finde ich es bemerkenswert, dass die tatsächliche Sicherheitsrelevanz der Klimakrise zunehmend in den Hintergrund gerät.

 Nach Ereignissen wie im Ahrtal ist klar, dass die Klimakrise die Sicherheit von Menschen akut bedroht. Trotzdem wird sie sicherheitspolitisch kaum so gerahmt. 

Gleichzeitig werden diejenigen, die darauf aufmerksam machen möchten – auch mit unbequemen oder politisch unliebsamen Protestformen – stark diffamiert und kriminalisiert.

Das zeigt sich zunächst auf diskursiver Ebene. Hohe politische Entscheidungsträger*innen sprechen vor Kameras von „Ökoterroristen“. Wird das medial rezipiert, prägt es ein gesellschaftliches Klima, in dem diese Protestgruppen als Gefahr für die öffentliche Sicherheit erscheinen und nicht als zentraler Bestandteil einer lebendigen Demokratie.

Wir haben zudem gesehen, dass Versammlungen nicht nur reguliert werden, sondern der Versuch besteht, sie komplett zu verunmöglichen: durch Verbote, durch Auflagen, die faktisch einem Verbot gleichkommen, oder durch umfangreiche Vorfeldmaßnahmen. In Bayern etwa wurden die Befugnisse zur präventiven Ingewahrsamnahme ausgeweitet. Klimaaktivist*innen wurden dort bis zu zwei Monate präventiv inhaftiert – ohne strafrechtlichen Vorwurf oder Verurteilung - mit dem Ziel, sie vom Protest abzuhalten. Hinzu kommen Überwachung und Polizeigewalt, insbesondere der Einsatz sogenannter polizeilicher Schmerzgriffe. Das hat nicht nur schwerwiegende Folgen für einzelne Betroffene, sondern wirkt abschreckend auf die gesamte Bewegung. Wir sehen außerdem, dass über Formen eines quasi kollektiven Strafrechts ganze Bewegungen stärker in den Blick geraten. 

Gegen die Letzte Generation laufen Verfahren nach §129 StGB, also wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung – ein erheblicher Strafvorwurf.

Er ermöglicht sehr grundrechtsintensive Ermittlungsmaßnahmen schon im Vorfeld. So wurde etwa ein Pressetelefon abgehört und es gab Razzien bei Mitgliedern der Gruppe.

Sollte es zu einer Verurteilung kommen – die Verfahren laufen noch –, wäre auch jegliche Unterstützung kriminalisiert. Selbst das Drucken eines Flyers oder eine Spende könnten strafrechtlich relevant werden. Man sieht daran sehr deutlich, wie sich das diskursive Feindbild der Klimabewegung schließlich in eine rechtliche Kriminalisierung übersetzt.

GWI: Kannst du uns über die Kampagne “Protect the Protest” mehr erzählen? Mich interessiert, welches Vorgehen im Bereich Sicherheit und Kontrolle ihr dort kritisiert. Und auch, welcher Sicherheitsbegriff nach eurem Verständnis dem dominiertem Sicherheitsverständnis entgegengesetzt werden kann.

 

Paula Zimmermann: Grundsätzlich richten wir uns mit der Kampagne Protect the Protest entschieden gegen die Kriminalisierung und Diffamierung politischen Protests – auch solchen, der politisch unbequem oder unliebsam ist.

Wichtig ist dabei unser weiter Protestbegriff. Es geht nicht nur um klassische Versammlungen oder Demonstrationen auf der Straße, sondern um den Schutz kritischer Zivilgesellschaft und politischen Engagements im weiteren Sinne. 

Das Recht auf Protest ist juristisch nicht als eigenes Recht kodifiziert. Es ergibt sich aus einer Kombination von Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit. Auch Pressefreiheit, Kunstfreiheit oder Wissenschaftsfreiheit können dazugehören. Wir wollen die Bedeutung all dessen hervorheben, weil Protest historisch und aktuell viel bewirkt hat. 

Viele gesellschaftliche Errungenschaften wurden maßgeblich durch Protest erstritten. In Deutschland waren Meinungs- und Versammlungsfreiheit verfassungsrechtlich immer hohe Güter, die auch vom Bundesverfassungsgericht stark geschützt wurden. 

In den letzten Jahren sehen wir jedoch einen klaren Trend: Protest wird zunehmend als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung betrachtet und entsprechend behandelt.

 Das zeigt sich auf legislativer Ebene durch die Ausweitung polizeilicher Kontroll- und Eingriffsbefugnisse. Es zeigt sich aber auch im Diskurs: Bestimmte Protestgruppen – vor allem Klimaaktivist*innen, Palästina-solidarische Protestierende und Menschen aus dem antifaschistischen Umfeld – werden als gewaltvoll, chaotisch oder als Sicherheitsrisiko dargestellt. Dadurch wird mehr Kontrolle ausgeübt und Proteste werden im Vorfeld de facto verunmöglicht. Hinzu kommt, dass ganze Bewegungen in den Blick genommen werden. Es geht nicht mehr nur um individuelle strafrechtliche Verantwortung, etwa wenn sich jemand der Letzten Generation auf die Straße setzt und möglicherweise eine Nötigung begeht. Stattdessen geraten ganze Gruppen durch Verfahren wie nach §129 StGB ins Visier.

Besonders problematisch – auch juristisch schwer zu fassen – sind die sogenannten Chilling Effects, also Abschreckungseffekte. Sie entstehen durch Maßnahmen wie Überwachung oder den Einsatz biometrischer Gesichtserkennung auf Protesten. Das hält Menschen, die keinen gesicherten Aufenthalt oder andere Risiken tragen, davon ab, ihr Recht auf Protest wahrzunehmen.

Wir sehen solche Effekte auch bei polizeilichen Taktiken wie Schmerzgriffen, also dem gezielten Drücken von Nervendruckpunkten oder dem Verdrehen von Gelenken. Diese Maßnahmen dienen nicht unmittelbar der Durchsetzung polizeilicher Anordnungen. Sie erzeugen Gewalt- und Angsterfahrungen – sowohl für Betroffene als auch für Umstehende – und können Menschen davon abhalten, künftig zu demonstrieren.

Demokratietheoretisch ist das äußerst problematisch. Hier wird nicht „nur“ reguliert, und schon gar nicht wird das Recht auf Protest aktiv geschützt, was eigentlich staatliche Pflicht wäre. Stattdessen werden Abschreckungseffekte erzeugt, die einschüchtern sollen. Das ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen und einer lebendigen Demokratie nicht vereinbar.

FORTSETZUNG

GWI: Würdest Du sagen, dass es mit Blick auf FLINTA Personen nochmal eine besondere Vulnerabilität gibt in Bezug auf Polizeigewalt und das Vorgehen von Institutionen?

Paula Zimmermann:

Wir haben dazu keine statistischen Daten vorliegen, weshalb es schwer ist, eine eindeutige Kausalität festzustellen. Was wir jedoch wissen: Besonders im Kontext von Palästina-solidarischen Demonstrationen kam es vermehrt zu Vorfällen sexualisierter Polizeigewalt. Frauen wurden im Schritt von Polizeibeamt*innen zu Boden gedrückt. Am 8. März kam es etwa auf einer Demonstration in Berlin zu solchen Situationen.

Wir sehen außerdem immer mehr Angriffe auf Pride-Veranstaltungen, etwa die Internationalistische Pride, die ebenfalls einen Palästina-solidarischen Bezug hatte. Das betrifft Berlin, aber auch andere europäische Städte. Solche Veranstaltungen sind zwar nicht per se FLINTA*-Demos, doch traditionell sind dort viele FLINTA*-Personen anwesend.

Wir haben mehrere dokumentierte Fälle, in denen Polizeibeamt*innen Schläge auf Kopf und Gesicht weiblicher Demonstrierender ausgeführt oder provoziert haben. Ich kann nicht sicher sagen, dass dies gezielt aufgrund des Geschlechts geschah. Allerdings fällt auf, dass es viele solcher Fälle gibt. Ein weiteres Beispiel betrifft eine Palästina-solidarische Demonstration im Mai oder Juni. Ein Video, das viel geteilt wurde, zeigt eine weibliche Demonstrierende, die sich bereits von der Demo entfernt hatte und dann völlig unvermittelt und mit massiver Gewalt von hinten von einem Polizeibeamten zu Boden gestoßen wurde.

Wie gesagt: Eine klare Verbindung zum Geschlecht lässt sich nicht herstellen. Aber wir sehen eindeutig, dass es keinerlei besonderen Schutz gibt – im Gegenteil.

GWI: Du hast jetzt schon mehrfach gesagt, dass vieles im Namen der öffentlichen Sicherheit passiert. Was würdest du sagen: Welcher Sicherheitsbegriff steckt dahinter? Wessen Sicherheit wird mit diesen Maßnahmen eigentlich geschützt, wenn dabei sogar Grundrechte verletzt werden?

Paula Zimmermann: Ich frage mich das auch. Es handelt sich um einen Law-and-Order-Diskurs. Ich finde, das ist ein innenpolitischer Diskurs, der immer stärker autoritär aufgeladen ist und den Sicherheitsbegriff eigentlich umdreht.

Wenn man vom Begriff der Sicherheit einmal weggeht, könnte man sogar von einer Perversion des Rechtsstaatsbegriffs sprechen. Das sieht man stark an den Reaktionen auf die Proteste der Letzten Generation. Die Protestierenden werden zum Feindbild stilisiert, und hochrangige politische Entscheidungsträger*innen sagen, gegen sie müsse der Rechtsstaat „mit voller Härte“ durchgreifen.

Das bedeutet: Die Sicherheit einer vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft soll gegenüber diesen „Störer*innen“ oder „Kriminellen“ geschützt werden – gegenüber diesen angeblich gewaltvollen Protestierenden. Gegen sie soll der Staat dann möglichst hart vorgehen.

Dabei kommt es zu Vorverurteilungen. Menschen sollen am liebsten sofort eingesperrt werden. Damit wird der Rechtsstaatsbegriff – der eigentlich die Einhegung staatlicher Macht und die Kontrolle von Polizei und anderen Exekutivbehörden bedeutet – komplett umgedreht.

GWI: Wir beschäftigen uns ja am Gunda-Werner-Institut auch mit Antifeminismus. Da lässt sich oft erkennen, dass in verschiedenen Ländern antifeministische Akteur*innen häufig ähnlich vorgehen. Würdest du sagen, dass es mit Blick auf das Recht auf Protest eine Art polizeiliches/institutionelles Playbook gibt, das ihr bei Amnesty International beobachtet?

Paula Zimmermann:  Auf jeden Fall. Wir haben 2024 einen großen Bericht zum Recht auf Protest in 21 europäischen Ländern veröffentlicht. Darin lassen sich klare Trends erkennen, und zwar in vielen Ländern. Das betrifft sowohl die Methodik als auch die Frage, welche Protestgruppen besonders betroffen sind.

In vielen osteuropäischen Ländern werden gezielt Proteste für Frauenrechte, gegen die Kriminalisierung von Abtreibung oder Pride-Veranstaltungen angegriffen. Klimaaktivismus wird eigentlich überall kriminalisiert, sehr stark zum Beispiel in UK, wo es langwierige Haftstrafen für Menschen gab, die im Prinzip nur einen Stau verursacht haben.

Wir sehen das jetzt auch in den USA – vor allem in Verbindung mit einer antimigrationspolitischen, fremdenfeindlichen und rassistischen Agenda. Das betrifft auch Gaza-Proteste oder Palästina solidarische Proteste, besonders an Universitäten.

Das sind Muster, die wir deutlich erkennen. Dazu kommt die Gewalt von Polizei und Sicherheitsbehörden. Amnesty nimmt grundsätzlich keine Hierarchisierung von Menschenrechtsverletzungen oder Ländern vor. Deshalb will ich das nicht direkt vergleichen. Aber natürlich gibt es Fälle, die weit über das hinausgehen, was wir in Deutschland sehen. Wir haben im Iran und in Bangladesch gesehen, dass Protestierende getötet wurden. In vielen Ländern wird scharfe Munition eingesetzt.

In Frankreich sehen wir zudem den Einsatz sogenannter „weniger tödlicher Waffen“. Das ist ein Euphemismus. Gummigeschosse oder Tränengasgranaten führen dazu, dass Menschen ihr Augenlicht verlieren, schwer verletzt werden oder an den Verletzungen sterben können.

Ein weiterer Mechanismus zeigt sich auf rechtlicher Ebene. Immer häufiger werden Antiterrorgesetze gegen politische Protestierende eingesetzt. In UK etwa wurde die Gruppe Palestine als Terrororganisation verboten. Jede Unterstützung – sogar aus dem Ausland – kann strafbar sein. Auch hier wird die Bewegung als Kollektiv kriminalisiert, und jede Form der Unterstützung potenziell ebenfalls.

GWI: Was wäre für Dich aus feministischer Perspektive ein Sicherheitsbegriff, der lohnenswert wäre?

Paula Zimmermann: Ich glaube, ich habe keine feste Definition oder keinen klaren Begriff in dem Sinne. Aus meiner Perspektive – auch als Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganistaion – braucht es einen menschenrechtlich informierten Sicherheitsbegriff. Also einen menschenzentrierten Sicherheitsbegriff, der die Ursachen von Ungleichheit, Unsicherheit, Armut und intersektionalen Phänomenen angeht.

Sicherheit darf nicht als Gegenstück zur Freiheit verstanden werden. Eigentlich bräuchte es einen freiheitlichen oder freiheitsrechtlichen Sicherheitsbegriff. Das klingt vielleicht nach einem Widerspruch, ist es aus meiner Sicht aber nicht. Es geht darum, Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen und so den maximalen Schutz herzustellen – für alle.