Sieben Gründe, sich in Berlin zu verlieben

Ein Liebesbrief an Berlin - im Rahmen von Weiter Schreiben - ein literarisches Portal für Autor*innen aus Krisengebieten.

Teaser Bild Untertitel
Archivprint auf Baumwollpapier, Titel: Reem Karssli ‐ déjàvu (2016) Lost Images series, Auflage 1 von 7 + 3A.P., Originalgröße 140x110cm

Seit fast zwei Jahren lebe ich in Berlin.
Zwei Jahre nur, und schon fließen die Spree und die Havel vom Norden zum Süden meines Herzens. Dort, wo ich an ihren Ufern sitze, löst sich das Salz der Flucht und der Ägäis von meiner hellbraunen Haut und meiner Erinnerung ab. Das Leid, das wie Flechten und Meeresalgen auf meinem Körper und in meinen Augen gewachsen ist, wird abgelöst durch die Schönheit der Nachtfalterorchidee, die in den Berliner Straßen, Cafés und Buchläden blüht.
Obwohl es nur zwei Jahre sind, habe ich in Berlin so viele Erinnerungen angesammelt wie eine Deutsche, die allmählich auf die Neunzig zugeht.
Trotz all dieser schönen Erinnerungen habe ich große Angst, dass Berlin mir abhanden kommen könnte wie meine Heimatstadt Kobani und Aleppo, wo ich aufgewachsen bin. Niemand gibt seine Städte freiwillig auf, Städte werden geraubt.

Nach Pearl Harbour haben die Amerikaner Japaner, die in den amerikanischen Städten lebten, interniert. Und warum? Weil der Krieg herzlos ist. Für die Regierungen ist die Zugehörigkeit abhängig von Hautfarbe und Aussehen. Sie erkennen weder die Liebe an, die ein Fremder für ihre Städte empfindet noch die Erinnerung, die er mit ihnen verbindet. Dabei waren es diese Städte, die den Fremden in seiner Not und den schwierigsten Zeiten seines Lebens aufgenommen haben.

Weil ich nicht an Kriege, Nationalitäten, Rassen und Grenzen glaube, schreibe ich heute über Berlin, auch wenn ich nur eine vorübergehende Einwohnerin dieser Stadt bin. Ich schreibe für die, die eines Tages, vielleicht Jahrzehnte später, die Stadt besuchen werden; dann, wenn ich nur noch eine Handvoll Knochen auf irgendeinem Friedhof bin. Ich schreibe einen Liebesbrief als Freundin, als Dichterin, als Einwanderin und als Geflüchtete, die um ihrer Kinder willen von einer Welt ohne Landkarten träumt. Ich schreibe für alle Kinder, die noch nicht geboren sind.

1
Ein paar Meter vom Checkpoint Charlie entfernt, in der Nähe der Berliner Mauer, bleibe ich stehen, um Fotos von mir zu machen. Dort versuchte der damals achtzehnjährige Peter Fechter, die Mauer nach Westen zu überwinden, um in der Freiheit zu leben, von der zahlreiche Völker immer noch träumen, aber er starb im Todesstreifen zwischen Ost und West. Der Tod lauerte in Form einer Kugel auf seine Niere.
An dieser grausamen Mauer stand ein Henker. Sie war nicht nur aus Zement und Metall, sondern zerstörte Träume, Liebe und Erinnerungen. Später verwandelte sie sich zu einer bunten Mauer, an der die Besucher von Berlin lächelnd Erinnerungsfotos machten, als ob sie sagen wollten: die alten Schmerzen sind überwunden. Zum Krieg sagen sie: Wir haben für Peter Fechter Flügel erschaffen, damit er überall in der Welt frei umher fliegen kann.

2
In Berlin wird niemand verhungern, so wie es in Norwegen dem Helden aus Knut Hamsuns Roman „Hunger“ passierte. Berlin, die vertraute Stadt ist mitfühlend mit den Armen, Fremden und Vertriebenen, sie wird sie satt machen wie sie auch ihre kleinen Vögel satt macht, ihre Schwäne und Enten in den Seen und Flüssen. Es gibt in Berlin immer eine Hand, eine zarte Hand, die Brot ausstreut, und die hungrigen Vögel flattern herbei.

3
In einer Szene wie aus einem alten französischen Film verabschiedet sich ein siebzigjähriger Mann mitten im Gedränge von seiner Frau am Hauptbahnhof. Der Zug, der Richtung Köln fährt, ist schon eingefahren. Er küsst ihren zarten Mund. Er steigt ein, stellt seinen Koffer ins Wageninnere und steigt langsam wieder aus, gestützt auf seinen Stock, um der alten Frau noch einen zweiten Abschiedskuss auf den Mund zu geben. Während ich die beiden beobachtete, schossen mir Tränen in die Augen: Warum entstehen Grausamkeiten und Kriege in unseren Ländern, während die Liebe in Berlin so einfach, schön und zärtlich ist wie eine Sonne, die zum ersten Mal auf ein kaltes Land scheint?

4
In Berlin entwickelt sich die Liebe, ohne auf Sprachbarrieren zu achten. Niemand achtet darauf, wie schwierig es ist, das Wort „Entschuldigung“ zum ersten Mal auszusprechen. Die Liebe wächst hier am Ufer und am Rande des Lebens der Einwohner, so wie zwischen mir und meiner Tandempartnerin, der deutschen Schriftstellerin Annett Gröschner. Im Herzen der deutschen Hauptstadt schenkte mir Annett eine nach Lorbeer duftende "Aleppo-Seife". Sie spürte in ihrem Herzen, das offen für Geflüchtete und Fremde ist, dass der Geruch dieser Seife und ihr Name mir viel bedeuten. Dieses kleine Stück Seife brachte mich in mein altes Leben nach Aleppo zurück, in die alten engen Gassen, die berühmt für die Seifenherstellung sind und wo Seife an jeder Ecke verkauft wird.
Woher wusste Annett, dass der Duft von Lorbeer in meinem Gedächtnis der Duft der Liebe ist, der Duft eines Mannes, den ich einst liebte und dessen Duft an meiner Haut für immer haften blieb?

5
Das bezaubernde Berlin ähnelt einer bunt verzierten Kiste, versteckt in der Truhe einer orientalischen Großmutter, sie überrascht mich mit Geschenken der Pandora, wenn ich sie öffne. Der Fremde kann auf Berliner Straßen verloren gehen, aber er wird einen Platz unter der Sonne finden. Berlin ist eine Stadt, die keine Identitäten oder Zugehörigkeiten sucht, ihre Identität ist farblos. Das ist es, was aus ihr eine so charmante und beliebte Stadt macht. Berlin akzeptiert nicht, dass es nur eine bestimmte Farbe für sich und seine Bewohner gibt. Es versucht, eine neue Identität aus den verschiedenen Identitäten zu bilden.

Ich verbringe in Berlin meine Zeit damit, Geschichten und Gedichte zu schreiben, ich wandere zwischen den Stationen hin und her, um neue Geschichten zu sammeln, als Ausgleich für die alten, zwischen Krieg und Flucht verlorengegangenen. Keine Hautfarbe, keine nationale Identität, keine religiöse Zugehörigkeit, nichts von all dem macht den Unterschied zwischen den Menschen aus, nur ihre Träume unterscheiden sie voneinander.

6
Ich stelle mir jetzt vor, ich wäre siebzig Jahre alt und säße am Spreeufer, um mich herum meine Enkelkinder, sie fütterten die Vögel, und ich erzählte ihnen, wie dieser Fluss den Verlauf der Geschichte ihrer schönen Großmutter verändert hat. Ich bin mir sicher, dass ich mit siebzig eine schöne Berlinerin sein werde. Ich werde ihnen auch erzählen, wie sich Berlin im Verlauf der Geschichten tausender Vertriebener in dieser Welt verändert hat. Ihre kleinen Geschichten könnten in einem Buch von Tausend und einer Nacht erzählt werden.

7
Auf einer deutschen Website las ich das Zitat von Jean Paul: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Und so weiß ich jetzt, dass ich Berlin nie verlassen werde. Ich habe in dieser Stadt eine Heimat und ein Exil aus Erinnerungen.

 

Dieser Text erschien zuerst auf weiterschreiben.jetzt                                       


Dieser Text wurde von Suleman Taufiq übersetzt.