Zwölf Milliarden Stunden, elf Billionen Dollar


Feministischer Zwischenruf

Nutzen wir die Corona-Krise für eine Neuverteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit!


Chores in the morning

„Schreibt man ‚Banane‘ wirklich ‚Banene‘?“, fragt mich mein achtjähriger Sohn, bei dessen Kreuzworträtsel offensichtlich etwas schiefgegangen ist. Sitzt er direkt neben mir an seinen Aufgaben, bleiben mir selbst durchschnittlich 42 Sekunden ungestörte Arbeitszeit zwischen zwei Fragen. Habe ich Pech, nutzt meine sechsjährige Tochter die kurze Pause, um mir zu zeigen, dass sie sich selbst in den Fuß beißen kann. Oder eines der Kinder möchte schon wieder etwas zu essen oder ausgiebiges Lob, weil es einen einzigen krakeligen Buchstaben geschrieben hat.
 Homeschooling und Homeoffice sind schwer vereinbar, darüber war in den letzten Wochen viel zu lesen. Dass familiäre Care-Arbeit und Berufstätigkeit für viele Frauen ganz generell oft nur schwer unter einen Hut zu kriegen sind und die tägliche Reproduktionsarbeit auch ohne Pandemie ein undankbarer Knochenjob ist, dafür gab es bislang wenig mediales Mitleid. Doch nicht nur „Systemerhalterinnen“ wie Krankenschwestern und Supermarktkassiererinnen bekommen während der Corona-Krise plötzlich Applaus. Auch die Mütter, die das System zuhause am Laufen halten, rücken endlich ein klein wenig ins Scheinwerferlicht. Feministinnen weisen seit hundert Jahren darauf hin, dass ohne unbezahlte Reproduktionsarbeit das gesamte globale Wirtschaftssystem augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. „It’s work, it’s work, it’s work“, heißt es nun sogar in der New York Times, die zudem zu berichten weiß, dass diese unsichtbare, unbezahlte Arbeit in Corona-Zeiten so ungerecht wie immer aufgeteilt ist: „Nearly Half of Men Say They Do Most of the Home Schooling. 3 Percent of Women Agree.”


 

Lea Susemichel (*1976), geboren und aufgewachsen in Deutschland, studierte Philosophie und Gender Studies in Wien mit Schwerpunkt feministische Sprachphilosophie. Als Journalistin, Lehrbeauftragte und Vortragende arbeitet sie zu den Themen feministische Theorie & Bewegung und feministische Medienarbeit. Seit 2006 ist sie Leitende Redakteurin des feministischen Magazins an.schläge.


Jetzt noch mehr unbezahlte Arbeit für Frauen


Dass die Aufteilung auch in Deutschland nicht fairer als in den USA ist, zeigt die Mannheimer Corona-Studie: Auch in deutschen Hetero-Haushalten übernimmt in der Hälfte aller Fälle die Frau ganz alleine die Krisen-Kinderbetreuung. Vieles deutet sogar darauf hin, dass der Lockdown und seine Folgen zu einer Retraditionalisierung von Geschlechterverhältnissen geführt hat und bestehende Ungleichheiten weiter verstärkt. Wie groß die Ungerechtigkeit bei der häuslichen Arbeitsaufteilung weltweit auch schon ohne Corona-Virus war, belegt eine aktuelle Oxfam-Untersuchung: Jeden Tag leisten Frauen und Mädchen unbezahlt über zwölf Milliarden Stunden Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit. Gäbe es auch nur den Mindestlohn für diese Arbeit, käme man auf die Summe von unvorstellbaren 11.000.000.000.000 (elf Billionen!) US-Dollar pro Jahr. Weltweit ist aufgrund dieser immensen Arbeitsbelastung zudem die Gesamtarbeitszeit von Frauen deutlich höher als die von Männern (55 statt 49 Wochenstunden), wie eine Statistik der Internationalen Arbeitsorganisation zeigt – die Einkommenssituation steht dem bekanntlich diametral entgegen.


Zeitverwendungsstudien und Detailanalysen entlarven zudem, dass in punkto geschlechtliche Aufgabenverteilung sogar in vermeintlich emanzipierten und egalitären Beziehungen einiges im Argen liegt. Männer genießen in Heterobeziehungen im Zweifelsfall das Privileg des kleineren Übels, sprich: Bestenfalls kocht er und kauft ein, sie putzt und bügelt. Und trägt meist auch noch die ganze „Mental Load“, denkt also an Impftermine, neue Unterhosen und das Geschenk für die Kindergeburtstagsparty. An dieser weiblichen Zuständigkeit für Haushalt und Kinder ändert sich selbst dann nichts, wenn die Frauen Hauptverdienerinnen bzw. ihre Männer arbeitslos sind, wie die aufschlussreiche Studie “Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist” (2015) der Soziologinnen Cornelia Koppetsch und Sarah Speck 2015 sichtbar macht. 

Doch weibliche Sorgearbeit findet nicht nur unbezahlt statt und auch nicht nur Zuhause (übrigens ein Ort, der für Betroffene von krisenbedingt immens steigender häuslicher Gewalt keinesfalls der „safe space“ ist, als der er aus virologischer Perspektive gilt). Auch die entlohnte Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen erledigt, von Kindergartenpädagoginnen, Pflegerinnen, Reinigungskräften, Krankenschwestern oder Sexarbeiterinnen. Dass es mit Applaus für diese Arbeit nicht getan ist, sondern stattdessen die miese Bezahlung und die oft prekären Arbeitsbedingungen der „Systemerhalterinnen“ skandalisiert werden sollte, diese Kritik klingt im Zuge des neuerwachten medialen Interesses an diesen Dienstleisterinnen immerhin leise an.

Nur Radikalität hilft

Wir sollten diese ersten Anzeichen zaghafter Systemkritik unbedingt nutzen und verstärken, um möglichst schnell politischen Druck für einen möglichst tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel aufzubauen. Einen Wandel, der auch eine Neuverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit umfassen und die Prekarisierung von (Sorge-)Arbeit in ihren unterschiedlichen Formen beenden muss. Think big: Die Krise kann alles sehr schnell noch viel schlimmer machen, und viele Entwicklungen lassen das befürchten. Sie bietet aber auch die einmalige Gelegenheit, jetzt die radikale Systemfrage und zuvor undenkbare politische Forderungen zu stellen: Nach Umverteilung,  sozial-ökologischen Konjunkturpaketen, Grundeinkommen, radikaler Arbeitszeitverkürzung u.v.m. Es ist übrigens wohl kein Zufall, dass mit der neuseeländischen Präsidentin Jacinda Ardern nun eine Regierungschefin die Vier-Tages-Woche fordert.


Auch von Arbeitslosigkeit und Armut werden Frauen durch die Krise überproportional betroffen sein, schon ist von einer „Shecession“ die Rede.  Anstehende Arbeitskämpfe müssen also jene Arbeiterinnen im Blick haben, die auch Caroline Criado-Perez in ihrem sehr empfehlenswerten neuen Buch „Unsichtbare Frauen“ in den Fokus rückt: „Dem US-Bureau of Labor Statistics zufolge stellt die Kohleindustrie, die im Wahljahr 2016 zum Inbegriff der (implizit männlichen) Arbeiterjobs wurde, insgesamt 53.420 Stellen mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 59.380 Dollar. Zum Vergleich: Die 924.640 mehrheitlich weiblichen Reinigungskräfte und Haushälterinnen verdienen im Durchschnitt jährlich 21.820 Dollar,“ schreibt Criado-Perez und fragt: Wer ist also die eigentliche Arbeiterklasse? Obwohl in ihrer Gegenüberstellung unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit noch gar nicht eingerechnet wurde, ist die Antwort eindeutig: Es sind Frauen. It’s work, it’s work, it’s work.