Was an der polnischen-belarussischen Grenze passiert, ist auch das Ergebnis einer deutschen Asylpolitik.
Wie oft pro Tag muss man schreien, damit unschuldige Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze gerettet werden? Wie oft noch soll der Appell, die Menschenrechte zu achten, durch die Betonhallen der deutschen, polnischen, belarussischen, europäischen Institutionen dringen? Gibt es überhaupt noch eine Debatte über die Unterstützung von Schutzsuchenden oder ist die Entscheidung längst zugunsten von Diktatoren und übergeordneten deutschen Interessen gefallen?
Die ganze Welt sieht die Vielzahl von Bildern mit den Schutzsuchenden an der polnisch-belarussischen Grenze, die erniedrigt und geschlagen werden. Menschen sterben schon jetzt an Hunger und Kälte. Und es werden noch mehr Menschen sterben. Die Grenze zwischen Polen und Belarus ist inzwischen „Europas neue Todesgrenze" geworden, an der immer mehr Geflüchtete sterben und Helfer*innen daran gehindert werden, Unterstützung zu leisten.
Menschenrechtsverletzungen als Folge politischen Kalküls
Indessen überlegen die EU und Belarus ungerührt den nächsten politik-strategischen Schachzug. Wenn die EU die Flüchtenden an der polnisch-belarussischen Grenze aufnimmt, werden sich noch mehr Menschen auf diesen Weg machen, heißt es. Diese Argumentation wiederholt sich seit 2015. Es wird oft gesagt, dass die EU und damit auch Deutschland damit das rechte Lager beruhigen möchte. Doch es sieht so aus, als ob die Politik damit nicht nur das rechte Lager beruhigt, sondern auch deren Ansichten übernimmt und diese bedient.
Seit Sommer 2021 erlaubten die belarussischen Behörden Migranten*innen aus dem Nahen Osten nach Belarus einzureisen, indem sie die Vergabe von Touristenvisa erleichterten. Die Behörden ermöglichten zudem die Weiterreise in das Grenzgebiet zu Polen, Litauen und Lettland. Letztlich wurden die Menschen von den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko als „Druckmittel“ an die EU-Grenze getrieben. Doch die Staaten der EU agieren nicht besser als die den belarussischen Polizeiapparat.
Menschenrechtsorganisationen wie etwa Human Rights Watch (HRW) schlagen Alarm. In seinem aktuellen Bericht vom 24. November 2021 wirft HRW Belarus und Polen schwere Menschenrechtsverstöße vor. Der 26-seitige Bericht „‚Die Here or Go to Poland‘: Belarus’ and Poland’s Shared Responsibility for Border Abuses“ dokumentiert Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten. Doch auch auf EU-Seite verletze dieses Vorgehen das europäische Asylrecht. Etwa 4000 Geflüchtete wollen in die EU, viele davon nach Deutschland.
Unter der europäischen Asylpolitik leiden auch jesidische Frauen
Nein, es sind nicht nur Männer, die vor den Toren der EU in Kälte ausharren. Auch Kinder und Frauen suchen Schutz und hoffen auf eine bessere Zukunft. Viele aber haben diese Hoffnung längst wieder verloren und bangen um ihre blankes Überleben. - Frauen, die über Grenzzäune geworfen wurden, Frauen, die schwanger sind. Und auch unter den Gestorbenen gibt es Frauen.
Auch eine 71-jährige Jesidin, von der mehrere Kinder von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) entführt wurden, sehnt sich nach einem besseren Leben. Ist das ein Verbrechen? Ein Verbrechen ist es, sie an der Grenze unmenschlich zu behandeln. Auch das 13-jährige kurdische Mädchen will nur in Sicherheit leben. Für sie bedeutet das, nicht getrennt von ihren Eltern zu leben. Sie wollte es durch „die Hölle von Białowieża“ nach Mannheim schaffen, wo ihr Vater lebt.
Doch wer dachte, dass sie auf polnischem Territorium sicher wäre, wurde enttäuscht. So wie auch eine Irakerin, die es mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einer älteren Frau bereits auf die polnische Seite geschafft hatte. Doch polnischen Soldaten haben sie vermutlich wieder über die belarussische Grenze getrieben. Kurz vor der Grenze wurde die Frau offenbar heftig gestoßen, ist gestürzt und dabei gestorben – vor den Augen ihrer Familie.
Frauen haben viel Kraft. Hat man sie wieder in den Irak zurückgebracht, werden sie es ein weiteres Mal versuchen. Das zeigt die Vergangenheit. Aufgeben werde sie nicht. Wie Suzan Ibrahim und ihr Tochter, die zurück nach Hanau wollen, wo sie einmal gelebt haben. Der belarussische Grenzschutz hat sie mit Tausenden Menschen in einem Logistikzentrum in Brusgi, an der Grenze zu Polen, untergebracht. Doch Mutter und Tochter wollen ihr Glück noch einmal versuchen vom Irak über Belarus zurück nach Deutschland zu gehen, weil es im Irak für sie keine Perspektive gibt. Sie glauben fest daran, dass Deutschland sie beim nächsten Mal aufnehmen wird, obwohl es letzten Asylantrag nicht geklappt hatte, einen dauerhaften Aufenthaltsstatus in Deutschland zu bekommen.
Es ist ein passendes Beispiel für die gruselige deutsche Asylpolitik, die unter anderem die jesidischen Frauen trifft. Im Jahr 2014 begannen die Massaker durch den IS an den Jesid*innen im Nordirak. Frauen wurden versklavt. Sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung, selbst Mädchen im Alter von neun Jahren wurden vergewaltigt. Manche wurden gefesselt. Die Terroristen drohten den Frauen mit Massenvergewaltigungen, falls sie sich nicht fügen. Wer fliehen wollte, wurde brutal zusammengeschlagen und getötet. Eine UN-Untersuchungskommission hat festgestellt, dass der sogenannte Islamische Staat Völkermord an den Jesid*innen beging. Doch damals sowie heute schaut Europa weg und Jesid*innen, die Asyl suchen, wird trotz der Verbrechen kein Schutz gewährt.
Es brennt. Wo wir auch hinschauen, es brennt. Und es wird immer weiter brennen, solange Machtspiele wichtiger sind als das Menschenleben. Und wir werden weiterhin grausame Bilder sehen und wieder vergessen.