„Warum hat er nicht aufgehört zu schlagen?“

Interview

In deutschen Gerichtssälen geht es vor allem um die Glaubwürdigkeit der Klägerin und kaum darum, warum Täter gewalttätig werden, sagt die Strafrechtsanwältin Christina Clemm. Sie erklärt, wie stabile frauenfeindliche Unterstellungen zu einer Kultur der Straflosigkeit in Deutschland führen.

Interview von Ines Kappert

Illustration: Author of “Why didn’t he stop the abuse?”

Ines Kappert: Du arbeitest seit 25 Jahren als Strafrechtlerin und zählst zu den prominentesten Juristinnen Deutschlands. Was sind die wichtigsten frauenfeindlichen Mythen in deutschen Gerichtssälen, wenn es um den Vorwurf der Vergewaltigung geht?

Christina Clemm: Dass Frauen1 anzeigen würden, um sich Vorteile zu verschaffen. Zum Beispiel, wenn sie mit dem Täter gemeinsame Kinder haben. Dann wird ihnen häufig unterstellt, sie wollten das Strafverfahren nutzen, um den Vätern das Sorgerecht wegzunehmen oder um den Umgang zwischen ihm und den Kindern zu verhindern. Oder dass sie unliebsame Chefs oder Kollegen loswerden wollten, der Karriere wegen. Ein weiterer Mythos ist, dass Frauen Anzeige erstatten würden, weil der Sex schlecht gewesen sei oder weil sie eine Affäre vor ihrem Partner rechtfertigen wollten. Oder es wird pauschal angenommen, dass Opfer von Sexualstraftaten danach nicht mehr glücklich sein und keinen Spaß mehr haben könnten und auch kein Interesse mehr an Sex hätten. Wenn sie später dann guten Sex haben oder nicht besonders traumatisiert sind, wird angenommen, sie seien eben nicht vergewaltigt worden. Außerdem glauben viele immer noch, vergewaltigte Frauen würden sich sofort trennen, sofort anzeigen, niemals ambivalent sein.

Und wenn sie sich nicht sofort trennen, war es keine Vergewaltigung?

Dann ist es jedenfalls seltsam und spricht eher gegen die Verletzte. Beliebt ist auch der Mythos, dass Frauen sexualisierte Gewalt behaupten, weil sie insgesamt unglücklich mit ihrem Leben sind und das auf eine eingebildete sexualisierte Gewalt schieben.

Wie kommt dieser Mythos zustande?

Die Idee dahinter ist, dass andere, zum Beispiel Therapeut*innen, Frauen einredeten, ihre Unzufriedenheit könne von verdrängten sexualisierten Übergriffen herrühren. Das passiert vor allem, wenn die Gewalt länger zurückliegt und Betroffene zunächst nur vage Erinnerungen haben. Es wird unterstellt, Therapeut*innen würden eine eigene Agenda verfolgen, statt anzuerkennen, dass es Verdrängungsmechanismen gibt sowie fundierte Methoden mit ihnen umzugehen. Neuerdings wird auch immer häufiger unterstellt, dass einer Frau in einer so emanzipierten Gesellschaft wie unserer eigentlich gar keine Gewalt oder Vergewaltigung mehr angetan werde. Frauen seien doch aufgeklärt genug, um sich rechtzeitig zur Wehr zu setzen.

Wir sollten die Frauen dafür feiern, dass sie sich von dem gewalttätigen Mann getrennt haben

Wie wichtig ist die Annahme, dass Emanzipation vor Vergewaltigung schütze?

Ich hatte kürzlich einen Fall, in dem meine Mandantin sich zunächst selbst die Schuld gegeben hat, für das, was passiert ist, und sich sogar bei dem Täter entschuldigte. Als ich versucht habe, dem Gericht zu erklären, dass Scham- und Schuldgefühle typisch bei Opfern sexualisierter Gewalt sind, reagierte der Richter gereizt: „Die Behauptung, dass Frauen sich selbst die Schuld geben würden, ist ‘letztes Jahrhundert’”. So etwas gebe es heute nicht mehr in Deutschland: „Wir sind doch schon viel weiter, wir sind gleichberechtigt.“ Wenn ich behauptete, dass sich Frauen oft nicht wehren, oft nicht schreien könnten, da sie sich in einer Schockstarre befänden, Scham und Schuldgefühle entwickelten, dann würde ich die Frauen damit in eine Opferrolle drängen, die längst nicht mehr existiere.

Auf einer Skala von 1 bis 6: Inwieweit verhindern diese Mythen und Unterstellungen eine angemessene Rechtsprechung? Eins: Es ist ein Problem, aber am Ende kommen wir zu einem gerechten Urteil. Sechs: Sie verhindern total, dass Betroffenen von sexualisierter Gewalt Gerechtigkeit widerfährt.

Fünfeinhalb bis Sechs.

Was hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, positiv oder negativ?

Auf gesetzlicher Ebene hat sich viel getan. Ein wichtiger Schritt war 2016 die Änderung des Sexualstrafrechts. Bis dahin waren sexualisierte Übergriffe nur strafbar, wenn sie mit Gewalt, Drohungen oder unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage begangen wurden, jetzt reicht es aus, dass der Täter den entgegenstehenden Willen der verletzten Person erkennt. Darüber hinaus wurden Opferrechte in der Strafprozessordnung festgeschrieben, Videovernehmungen sind inzwischen eher möglich und auch professionelle psychosoziale Unterstützung kann während des Prozesses in Anspruch genommen werden.

Und auf der negativen Seite?

In der Rechtspraxis gingen die positiven Entwicklungen häufig mit dem Verlust von bereits vorhandenen Rechten einher. Wir haben zum Beispiel seit vielen Jahren die Möglichkeit der Nebenklage. Um in den Verfahren nicht nur Zeug*in, nicht „reines Objekt“ zu sein, gibt es mit der Nebenklage die Möglichkeit, aktiv an dem Strafverfahren beteiligt zu werden, etwa eigene Anträge zu stellen oder Fragerechte zu nutzen. Selbstverständlich gehört dazu auch, umfassend über den Prozessstoff informiert zu sein, also Akteneinsicht zu erhalten. Vor ein paar Jahren hat sich aber plötzlich eine Rechtsprechung entwickelt, man dürfe den Verletzten die Akte nicht zeigen, weil sie dann ihre Aussage einstudieren und dem Akteninhalt anpassen würden.

Auch als Anwältin kannst du keine Akteneinsicht durchsetzen?

Oft erhalte ich keine Akteneinsicht, weil ich sie ja der Mandant*in weitergeben könnte. Tatsächlich erkläre ich den Mandant*innen stets, dass sie die Akte vor ihrer Vernehmung nicht lesen sollten, weil dies für die aussagepsychologische Beurteilung schwierig werden kann und ich sie sehr viel besser anders auf die Hauptverhandlung vorbereiten kann. Aber selbstverständlich muss ich die Akte kennen, sonst kann ich keine Anträge für meine Mandant*in stellen, keine Fragerechte in Anspruch nehmen. Diese Rechtsprechung bedeutet die Abschaffung der wichtigsten Opferrechte, der Aushebelung der Nebenklage über die Hintertür. Außerdem ist es opferverachtend an einer Verhandlung teilnehmen zu müssen, in der alle anderen umfassend informiert sind, womöglich intimste Details aus dem Leben der verletzten Person kennen, aber diese selbst weiß nicht, was die anderen wissen.

War die Sexualstrafrechtsform rückblickend ein Fehler?

Nein. Die Reform hat einen bitteren Beigeschmack, da die Veränderungen erst kamen, als es in der sogenannten Silvesternacht von Köln 2015/2016 zu Vorfällen sexualisierter Gewalt kam, die insbesondere Nicht-Deutschen zugeschrieben wurden. Damit also die Sexualstraftaten mit rassistischen Ressentiments verbunden werden konnten. Dennoch war die Reform wichtig. Aber die Gerichte finden viele Möglichkeiten und Schlupflöcher, um die dort festgeschriebenen Rechte nicht umzusetzen. Dabei gibt es auch einige sehr engagierte Richter*innen und Staatsanwält*innen, die sich etwa mit Vergewaltigungsmythen undTäterstrategien beschäftigen.

Man rechnet in Deutschland, dass nur 10 Prozent der Betroffenen von Sexualdelikten Anzeige erstatten. Bei diesen 10 Prozent kommt es nur bei etwa 8 Prozent zu einer Verurteilung.

Insgesamt aber haben wir weiterhin katastrophal niedrige Verurteilungsquoten. Man rechnet in Deutschland damit, dass nur 10 Prozent der Betroffenen von Sexualdelikten Anzeige erstatten. Bei diesen 10 Prozent kommt es schätzungsweise nur bei etwa 8 Prozent zu einer Verurteilung. Das schwankt von Bundesland zu Bundesland enorm. In Sachsen wurden zwischen 2014 und 2016 rund 21 Prozent der Angeklagten verurteilt, in Berlin nur rund 3 Prozent.

Die Verurteilungsquote in Berlin liegt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, warum?

Wahrscheinlich, weil in Berlin die Gerichte und die Polizei besonders schlecht ausgestattet sind. Bislang fehlen fundierte Untersuchungen. Eine Studie des renommierten Kriminologen Christian Pfeiffer aus Hannover von 2019 hat die oben genannten Zahlen ins Spiel gebracht. Sie bestätigt leider meine Erfahrung. Man könnte in Berlin und Deutschland von einer Kultur der Straflosigkeit sprechen.

Du berichtest immer wieder davon, dass in den Verfahren die Kläger*innen respektlos behandelt werden. Was passiert da?

Im Zentrum eines Strafverfahrens steht die angeklagte Person. Das heißt, es geht darum zu entscheiden, ob das härteste Schwert eines Staates zuschlagen muss und er möglicherweise einer Person ihre Freiheit nimmt, vielleicht für viele Jahre. In einem solchen Verfahren ist die verletzte Person nur Beweismittel. Sie soll dem Staat dabei helfen, ein richtiges Urteil zu fällen. Die angeklagte Person darf schweigen, lügen, es gilt die Unschuldsvermutung. Das ist auch richtig so, sonst wäre es kein rechtsstaatliches Verfahren. Die verletzte Person hingegen macht sich strafbar, wenn sie lügt, sie darf nicht schweigen, sondern muss aussagen. Das ist eine Schieflage, mit der wir umgehen müssen. Statt den Verletzten angemessen zu begegnen, werden sie als Zeug*innen von sexualisierter Gewalt von den Verfahrensbeteiligten geradezu auseinandergenommen. Es gibt kaum eine Frage, die nicht gestellt werden darf, selbst wenn sie gar nichts mit dem Fall zu tun hat.

Wie lässt sich das rechtfertigen?

 Mit der Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Klägerin. Es heißt dann zum Beispiel: „Wie war ihr Sexualleben vor der Tat? Haben Sie wechselnde Partner*innen, beschuldigen sie manchmal Partner*innen, übergriffig geworden zu sein? Wurden Sie schon einmal Opfer und ist der andere angebliche Täter bestraft worden? Erzählen Sie gern Geschichten, haben Sie schon einmal gelogen, haben Sie Geheimnisse?“ Der Fantasie der fragenden Person sind kaum Grenzen gesetzt. Viele Betroffene empfinden die Situation im Gerichtssaal als traumatisierend. Vielleicht wurden sie schon einmal vergewaltigt, haben in der Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt, hatten einen gewalttätigen Expartner und sich aber entschieden, nicht anzuzeigen, nicht auszusagen. Jetzt müssen sie die Wahrheit sagen und haben zu befürchten, dass diese Nebenschauplätze eröffnet werden, was sie nie wollten. Oder sie haben tatsächlich schon einmal angezeigt und das Verfahren wurde eingestellt. Dann stehen sie da als würden sie immer wieder Unschuldige verfolgen lassen. Es gibt viele Varianten, die für die Betroffenen entsetzlich sind. Wenn man sich nicht mit der Materie hinreichend beschäftigt, zum Beispiel nicht weiß, dass viele Frauen mehrfach in ihrem Leben Opfer geschlechtsbezogener Gewalt werden, dass die Taten nichts miteinander zu tun haben, dass Menschen an manchen Stellen Unwahrheiten sagen, das aber nicht ihre Glaubhaftigkeit insgesamt einschränkt, dann führt dies zu Situationen, die für die Verletzten kaum auszuhalten sind. Selbstverständlich kann, darf und muss man Zeug*innen kritisch hinterfragen dürfen, aber das muss respektvoll geschehen, transparent und fundiert.

So wie wir die Unschuldsvermutung für die beschuldigte Person haben, müssen wir ein Äquivalent auf der anderen Seite schaffen.

Die verletzte Person braucht eine Opfervermutung. Wir müssen sie jede Sekunde so behandeln, als sei sie tatsächlich Opfer einer schweren Straftat geworden – bis das Gegenteil bewiesen ist.

Warum bessert der Gesetzgeber hier nicht nach?

Hat er ja. Vor ein paar Jahren wurde der Begriff der verletzten Person in die Strafprozessordnung eingefügt. Sie wird als eine Person definiert, die behauptet, verletzt worden zu sein. Das ist also die Verletztenvermutung. Aber diese Herangehensweise hat sich noch nicht richtig in den Verfahren durchgesetzt. Viele Richter*innen können oder wollen damit nicht umgehen und behaupten, sie verstießen gegen die Unschuldsvermutung, sofern sie diese praktizierten. Das ist natürlich Unsinn.

Du sprichst von einem Backlash in Gerichtssälen. Gleichzeitig ist Feminismus in Deutschland so hip wie noch nie. Wie passt das zusammen?

Zunächst einmal ist es nicht so, dass sich in der Justiz besonders viele als Feminist*innen definieren würden. Jurist*innen sind eher konservativ, kommen eher aus wohlhabenden bildungsbürgerlichen Verhältnissen, sind eher nicht fortschrittlich. Natürlich gibt es ein paar, die den Weg durch die Institutionen gehen, die Jura studieren, um mit diesem Handwerkszeug etwas verändern zu wollen, die feministisch, links, antirassistisch etc. denken und handeln. Aber es sind wenige. Es gibt feministische Jurist*innen, langsam gibt es auch ein paar feministische Professor*innen, vielleicht auch ein paar feministische Richter*innen, aber es ist die Minderheit. Debatten um strukturell bedingte geschlechtsbezogene Gewalt, um Misogynie, aber auch um Rassismus und erst recht Klassismus, gehen fast vollständig an der Justiz vorbei, nicht einmal gendergerechte Sprache wird praktiziert. Viele Richter*innen würden sogar von sich behaupten, unpolitisch sein zu müssen, um objektiv urteilen zu können. Dabei sind sie selbstverständlich politisch denkende und handelnde Personen, erschreckend oft hängen sie konservativen oder rechtsextremen Parteien an. Gesamtgesellschaftlich würde ich sagen, dass Feminismus zwar auf T-Shirts hip ist, aber weiterhin die strukturelle patriarchale Gewalt geleugnet wird. Schon gar nicht wird gesehen, dass patriarchale Strukturen von geschlechtsbezogener und rassistischer Gewalt profitieren. Es wird zum Beispiel von der neuen, feministischen Außenpolitik gesprochen, indessen ein europäisches Grenzregime ausgebaut wird, das Tausende Menschen sterben lässt.

Müssen Richter*innen in Deutschland keine Fortbildungen machen?

Nein. Es heißt, das gefährde die sogenannte richterliche Unabhängigkeit, wenn sie gezwungen sein könnten, sich fortzubilden. Auch im Jurastudium ist die Sensibilisierung für Sexismus, Rassismus und Klassismus zu keinem Zeitpunkt Pflicht. Im Referendariat auch nicht. Zwar stehen in den schriftlichen Urteilen nur in den seltensten Fällen misogyne oder rassistische Passagen drin, da ist man schon vorsichtig. Doch in den mündlichen Verhandlungen kommt dies sehr häufig vor. Es wird viel sprachliche Gewalt ausgeübt, jedenfalls im Straf- und Familienrecht.

Kannst du da als Anwältin nicht einschreiten?

Selbstverständlich versuche ich das, aber es ist schwierig. Wenn ich im Gerichtssaal sagen würde, ich halte dieses oder jenes für ein rassistisches oder sexistisches Narrativ, dann käme dies sicherlich schlecht bei denjenigen an, die zu entscheiden haben. Im Interesse meiner Mandant*innen muss ich deshalb vorsichtig sein.

Ein weiteres Problem sind systematisch schlechte Ermittlungen, woran liegt das?

Sexualdelikte oder häusliche Gewalt gelten als nicht attraktiv. Die Crème de la Crème der Berliner Polizei zum Beispiel geht entweder in die Terrorismusbekämpfung oder kümmert sich um die Bekämpfung der sogenannten Clankriminalität. Was übrigens auch ein rassistisches Narrativ ist. Gleichzeitig sind die Dezernate, die sich um geschlechtsbezogene Gewalt kümmern, unterbesetzt und schlecht ausgestattet. Es fehlen einfach die Kapazitäten, um Computer oder Handy des Beschuldigten einzusehen, sein Umfeld angemessen zu beurteilen, zeitnahe Zeug*innenvernehmungen durchzuführen und vieles mehr. Oft finden die Verhandlungen erst zwei oder drei Jahre nach der Anzeige statt. Auch dies führt zu vielen Freisprüchen, weil die Erinnerung der Zeug*innen verblasst ist.

Wir müssen die Klägerin jede Sekunde so behandeln, als sei sie ein Opfer – bis das Gegenteil bewiesen ist.

Sind Femizide eine Reaktion auf feministische Errungenschaften?

In Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex)Partner ermordet, alle 36 Stunden versucht es einer. Das ist das Hellfeld. Die Dunkelziffern sind deutlich höher. Ich glaube schon, dass es eine Korrelation zwischen dem Anstieg von Gewalt und Errungenschaften des Feminismus gibt. Zum Beispiel: Als Männer Frauen noch vollständig als Besitz angesehen haben und das auch rechtlich abgesichert war, haben sie sich untereinander duelliert, wenn es ein Problem gab. Die Frau war nicht Ziel der Gewalt, hatte nichts zu entscheiden und musste zu dem gehen, der gewonnen hat. Heute ist es nicht mehr der „neue Besitzer“, der getötet werden muss, sondern die Frau selbst muss misshandelt oder ermordet werden, um die Ehre oder das männliche Selbstwertgefühl zu verteidigen. Insgesamt sind Femizide aber keine direkte Folge des Feminismus, sondern patriarchale Gewalt wird aus verschiedenen Gründen ausgeübt.

Du forderst keine Strafverschärfung, sondern Beschleunigung der Verfahren, was teurer wäre. Warum?

Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass hohe Gefängnisstrafen nicht als Abschreckung funktionieren. Manchmal denke ich, es wäre viel besser gewesen, wenn man dem Täter schnell seinen Grill oder sein Auto weggenommen hätte, ein Alkoholverbot ausspräche. Das hätte ihn richtig getroffen, viel mehr als Jahre später eine Geldstrafe zu bekommen, die man dann eben mehr oder weniger schnell abzahlt. Ich glaube, die Justiz muss vor allem zeitnah reagieren, der Täter muss erfahren, dass die Taten ernst genommen werden und der Staat die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt priorisiert. Wichtig wären auch gut durchgeführte Anti-Aggressions-Kurse, Tätertrainings, Ausstiegsprogramme. Das ist aufwendig und teuer. Doch wir brauchen unbedingt neue Ansätze.

Hast du einen Vorschlag?

Viele. Neben der Verbesserung der juristischen Aufarbeitung, der Entschädigung von Verletzten, ist es wichtig, den Diskurs zu ändern. Im Moment ist es wahnsinnig schwer, über Taten und Täter*innen zu sprechen. Sofort werden die Sprechenden mit Unterlassungsaufforderungen überschüttet, die schmerzlich teuer werden können. Dabei wissen doch alle, dass es sehr viele Verletzte und sehr viele Täter gibt, dass nur ein Bruchteil der Verletzten anzeigt und die meisten gar keine strafrechtliche Verurteilung wünschen, sondern einfach nur, dass die Taten aufhören. Das wird aber nur gelingen, wenn wir endlich aggressive Männlichkeit thematisieren.

Welche Sicherheit gibt es aktuell für die Verletzten?

Wenn wir davon ausgehen müssen, dass eine Frau etwa von dem Vater ihrer Kinder massiv bedroht wird, wenn er sogar mit dem Tod droht, dann gibt es eigentlich keine Möglichkeit, sie effektiv zu schützen. Denn neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit der Frau, steht das Recht auf die Kinder des Mannes. Eigentlich müsste sie alle Kontakte abbrechen und irgendwie verschwinden, aber in vielen Fällen wird ihr dann unterstellt, sie würde die Kinder entführen. Es ist ein sehr schwieriges Feld. Der beste Schutz wäre natürlich, den Täter zu zwingen, mit der Gewalt aufhören. Dann bräuchten wir gar keine Frauenhausplätze und keine bessere Ausstattung, das Problem wäre gelöst. Die große Frage ist also: Wie können wir ein gesellschaftliches Klima schaffen, dass Männer gar nicht erst zu Tätern werden? Da müssen wir bei den Jungen anfangen.

Was würde helfen?

Am besten hilft ein solidarisches Umfeld. Audre Lorde sagt: „I am not free while any woman is unfree, even when her shackles are very different from my own.“ Diese Solidarität haben wir in einem weißen, deutschen Mittelstandskontext ziemlich verlernt. Stattdessen denken die meisten: Das wäre mir aber nicht passiert. Am besten lässt sich das bei Frauen zeigen, die über eine länger Zeit Gewalt ertragen mussten. „Warum hast du den nicht früher verlassen?“, heißt es dann. Oder: „Wie konntest du den aussuchen? Warum hast du dich nicht beim ersten Schlag getrennt? Warum erst jetzt? Warum bist du eigentlich immer noch ambivalent?“ Nötig wäre das Gegenteil: Wir sollten die Frauen dafür feiern, dass sie es irgendwann geschafft haben, sich von dem gewalttätigen Mann zu trennen, Betroffene stärken und Verständnis zeigen, wenn sie ambivalent sind, gemeinsam kämpfen gegen Ungerechtigkeit und nicht allein auf die Justiz vertrauen. Und wieder und wieder und wieder fragen: Warum hat er nicht aufgehört zu schlagen?

1 Wenn Christina Clemm von „Frauen“ spricht, dann meint sie alle Menschen, die sich als Frauen verstehen oder als Frauen gelesen werden. Sexualisierte Gewalt geht fast immer von Cismännern aus und sie betrifft in der Mehrheit Frauen. Daher ist in diesem Interview pauschal von Männern und Frauen die Rede (Anm. der Red.).

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Leseempfehlung

Christina Clemm (2023): Gegen Frauenhass

Christina Clemm (2020): AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt

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Mitarbeit: Louisa Warth

Dieses Interview ist Teil des Dossiers Feminist Voices Connected.