„Bildungsplan und Gender-Wahn“? Die Debatte um den Bildungsplan in Baden-Württemberg und ihre Folgen

Schulen sind, neben Fußballstadien, besonders von Homophobie und Heterosexismus betroffene Räume. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt findet kaum Platz im Unterricht und im Schulgeschehen – abgesehen von abwertenden Schimpfworten. Besonders Kinder und Jugendliche, die sich jenseits der Heterosexualität verorten und/oder eine andere als die „klassischen“ Geschlechtsidentitäten leben, finden in Schulen meist keine sicheren Orte. Eine Antwort auf dieses Problem besteht in der Thematisierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Diese ruft aber lautstarke Gegner*innen aus dem konservativen und rechtspopulistischen Lager auf den Plan.

Demo für Alle am 19.10.2014 in Stuttgart
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Demo für Alle am 19.10.2014 in Stuttgart

Im November 2013 wurde ein Referentenpapier der Bildungskommission Baden-Württemberg zur Neufassung des Bildungsplanes 2014 bekannt. Darin wurde formuliert, dass die grün-rote Landesregierung „Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ als Querschnittsthema in den neuen Bildungsplan integrieren wollte.

Das Referentenpapier sah in seiner Struktur fünf Leitprinzipen für die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts vor: Berufliche Orientierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Medienbildung, Prävention und Gesundheitsförderung und Verbraucherbildung. Zu diesen Leitprinzipien sollte die Berücksichtigung sexueller Vielfalt als Querschnittsthema hinzutreten.[1]

„Demo für alle“ – gegen Akzeptanz sexueller Vielfalt

Das Papier löste erstaunlich schnell eine Gegenbewegung aus. Ein Realschullehrer aus dem Schwarzwald initiierte eine öffentlichkeitswirksame Petition, die eine Neufassung des Bildungsplanes forderte. Das Thema sexuelle Vielfalt wurde in dieser Petition als „pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung an den allgemeinbildenden Schulen“[2] gebrandmarkt. Gleichzeitig wurde unterstellt, dass damit ein „LSBTTIQ*-Lebensstil“[3] propagiert würde, der zu einer neuen Sexualethik führen soll. Damit wird die Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung durch eine gleichberechtigte und auf Akzeptanz von Vielfalt abzielende Pädagogik formuliert. Die Petition fand deutschlandweit hohen Zuspruch, wurde von über 192.000 Menschen gezeichnet und schaffte es bis in die Leitmedien.

In ihrer Folge entstanden Bündnisse, die z.B. unter dem Namen „Demo für alle“ in immer mehr Städten zu Demonstrationen aufruft. Ihre Forderungen bestehen in der Ablehnung einer angeblichen „Frühsexualisierung“ von Kindern und einer so genannten „Gender-Ideologie“. Die „Demo für alle“ ist zudem federführend an Aktionen gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare beteiligt. Unterstützung kommt dabei auch von konservativen und rechtspopulistischen Gruppierungen. Es handelt sich beispielsweise um Teile der Unionsparteien, um die Initiative Familienschutz, die zur „Zivile Koalition“ der Eheleute von Storch gehört oder die Aktion „Kinder in Gefahr“ (Mathias von Gersdorff), die dem katholischen Spektrum zuzurechnen ist.

Im Kern wird immer der angeblich gefährdete Schutz der Familie (damit ist die heterosexuelle Kleinfamilie gemeint) und der Kinder eingeklagt.

Europaweit vernetzte Akteur*innen

Das große Vorbild dieser Demonstrationen sind die Massenproteste in Frankreich gegen die Öffnung der Ehe („Manif pour tous“) für gleichgeschlechtlich lebende Paare, deren Umfang in Deutschland allerdings bei Weitem nicht erreicht wurde. Dennoch sind die „Demos für alle“ ein immer wiederkehrendes Phänomen. Federführend ist in Deutschland die Aktivistin Hedwig von Beverfoerde, die dem (ultra)katholischen Spektrum zuzurechnen ist. Sie ist über die „Demo für alle“ mit anderen wichtigen Protagonist*innen auf nationaler Ebene und im europäischen Ausland wie der European Family Foundation e.V. oder dem Familienforum Österreich vernetzt.[4] Auch Akteur*innen aus dem konservativen und rechts-klerikalen Lager, z.B. die Publizistinnen Gabriele Kuby[5] und Birgit Kelle[6] oder das „Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft“[7], das von der evangelikalen „Offensive junger Christen“ getragen wird, arbeiten gegen die grundlegende Idee von Bildungsangeboten, die die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt thematisieren.

Bewusste Falschinterprätationen…

Die Anliegen des Bildungsplanes wurden bewusst falsch interpretiert. Zum einen wurde der Begriff der „Frühsexualisierung“ durch diese Bewegungen geprägt und populär gemacht. Damit wurde unterstellt, dass eine frühzeitige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebensformen für Kinder schädlich sei und gleichzeitig ein Einfallstor für sexuelle Übergriffe auf Kinder darstelle. Der Begriff hat durch die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) auch Eingang in die politische Debatte gefunden.

…und die Folgen

In Baden-Württemberg haben die Proteste zu einer strukturellen und zu einer begrifflichen Veränderung des Bildungsplans geführt. Aus der Berücksichtigung sexueller Vielfalt als Querschnittsaufgabe wurde ein eigenes Leitprinzip gemacht, das nun den Titel „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ trägt. Damit wurde der Begriff der „sexuellen Vielfalt“ entfernt und durch eine weniger spezifische Formulierung ersetzt,[8]. Angeblich sollte damit die Wichtigkeit des Themas beibehalten werden.  Tatsächlich handelt es sich hier aber um eine deutliche De-Thematisierung des ursprünglichen Anliegens.

Auch in anderen Bundesländern gab es Kontroversen um das Thema „sexuelle Vielfalt“ in Bildungsplänen. In Niedersachsen stimmte die CDU bei einer entsprechenden Debatte gegen Maßnahmen für mehr Sichtbarkeit und Bildungsangebote für die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensweisen.[9] In Bayern gelang es den Vertreter*innen der „Demo für alle“, im Bereich der Sexualaufklärung geplante Veränderungen teilweise zu verhindern.[10] In Sachsen sprach der schulpolitische Sprecher der AfD-Landtagsfraktion in einer Pressemitteilung von „Schwul-Unterricht“.[11]

Durch die Ereignisse in Baden-Württemberg und die Debatten um den Bildungsplan wurde das Thema „Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ öffentlich breit thematisiert und skandalisiert. Konservative und rechte Parteien nutzen das Politikfeld, um gegen Minderheitenschutz zu argumentieren. Sie diskreditieren ihn als eine Privilegierung kleiner Gruppen – in diesem Fall die, deren geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung jenseits des zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Rahmens liegt. Damit werden mehrheitsgesellschaftliche Privilegierungen geschützt und strukturelle Ungleichheit fortgeschrieben.

Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe stärkt die Demokratie

Die Thematisierung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, eine emanzipatorische, auf Selbstbestimmung orientierte Sexualerziehung und die Vermittlung von Akzeptanz für unterschiedliche Lebensentwürfe gehören unabdingbar zu einer starken Demokratie. Alle Kinder haben das Recht in der Schule einen sicheren und sie akzeptierenden Ort vorzufinden, in dem sie sich bilden und entwickeln können und der nicht von antiemanzipatorischen Gedanken und Strukturen bestimmt wird. Und auch wenn an dieser Stelle noch viel politische und pädagogische Arbeit zu tun ist, sind die verabschiedeten Bildungspläne vieler Bundesländer zumindest ein (erster) Schritt in die richtige Richtung.

 

 

[1] Arbeitspapier für die Hand der Bildungsplankommissionen als Grundlage und Orientierung zur Verankerung der Leitprinzipien Stand: 18.11.2013. (https://www.ph-freiburg.de/fileadmin/dateien/sonstige/gleichstellung/Arbeitspapier_Leitprinzipien.pdf; 28.01.18).

[3] LSBTTIQ ist die Abkürzung für „Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transsexuell, Transgender, Intersexuell, Queer“. Mehr unter www.netzwerk-lsbttiq.net/lsbttiq

[5] So war sie Rednerin bei einer Demonstration gegen den Bildungsplan am 11.10.2015 in Stuttgart. Die Rede ist auf der Seite der „Demo für alle“ dokumentiert: https://demofueralle.files.wordpress.com/2015/11/kuby.pdf (01.02.18)

[6] vgl. dazu beispielsweise ihren Artikel im Focus 4/2014: https://www.focus.de/familie/schule/unterricht/report-muessen-kinder-alles-wissen_id_3552105.html (01.02.18).

[8] Dazu heißt es in einer Presseerklärung des Ministerpräsidenten Kretschmann und des damaligen Kultusministers Stoch: „‘Im Kern verfolgen wir das Anliegen, das Thema Toleranz und Akzeptanz im Bildungsplan zu verankern. Daran halten wir weiterhin ohne Wenn und Aber fest. Es hat sich aber gezeigt, dass das Arbeitspapier zu den Leitprinzipien, in dem das Thema Akzeptanz sexueller Vielfalt als ein Querschnittsaspekt in allen Leitprinzipien aufgenommen war, zu Missverständnissen geführt hat. Um die Debatte zu versachlichen und die Missverständnisse auszuräumen, haben wir uns dazu entschieden, eine eigenständige Leitperspektive zu Toleranz und Vielfalt einzuführen‘, erklärten Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Kultusminister Andreas Stoch.“ (http://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/neue-struktur-bei-kuenftigen-leitperspektiven-fuer-bildungsplan/; 28.01.18).