"Nicht nur Mütter waren Schwanger"

Interview

Alisa Tretau startet eine interaktive Webseite zu ihrem Buch. Im Interview teilt sie Erfahrungen mit Fehlgeburten, queerer Elternschaft, Behinderung und Elternschaft. Das Projekt bringt intime, vermeintlich private Schwangerschafts- und Familienerfahrungen ins Licht – ein wichtiger Beitrag zu politischen Debatten und für reproduktive Gerechtigkeit.

Alisa Tretau

Amina Nolte: Alisa, Du hast am 11. Mai dieses Jahr die Website „Nicht nur Mütter waren schwanger“ gelauncht. Was ist die Idee der Website und worauf baut sie auf?

Alisa Tretau: Die Website baut auf dem gleichnamigen Sammelband auf: „Nicht nur Mütter waren schwanger - Unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt“. Den habe ich ich 2018 im Verlag Edition Assemblage rausgebracht. Die Idee war, tabuisierte oder marginalisierte Geschichten über Kinderwunsch, Schwangerschaft und Elternsein zu vereinen. Jetzt, sieben Jahre später, haben wir die Website veröffentlicht, die daran anschließt, die also ein paar Perspektiven wieder aufnimmt, die schon in dem Sammelband vertreten waren, aber auch ganz viele neue Stimmen und auch Beitragsformen zu dem Thema reproduktive Gerechtigkeit zusammenbringt. 


Amina: Was heißt „nicht nur Mütter waren schwanger“? Was bedeutet denn der Titel für Dich?


Alisa: Der Titel ist eigentlich entstanden aus meiner persönlichen Erfahrung von Fehlgeburten, bei denen ich immer wieder gemerkt habe: Ja, ich war auch schwanger, obwohl ich zu dem Zeitpunkt noch kein Kind hatte. Und ich habe mich eben sehr intensiv mit diesem Thema Kinderwunsch und Schwangerschaft befasst und habe dabei gemerkt, wie viele Perspektiven eigentlich nicht vorkommen im Mainstream-Diskurs über schwanger werden, schwanger sein, Kinder bekommen. Ich habe damals sehr stark das Gefühl gehabt, es gibt so eine Erzählung von: „Ja, man möchte Kinder, man hat einmal Sex und dann hat man eine gesunde, normative, hetero, weiße Familie.“ In meiner eigenen privaten Auseinandersetzung habe ich dann gemerkt, wie viele andere Perspektiven es darauf gibt und dass es eben nicht nur Mütter, also in dem Sinne dieses eine Mutterbild gibt, was da so verbreitet wird.

Es gibt eben nicht nur Mütter, die schwanger waren, sondern auch Männer und Väter oder nicht-binäre Personen.

In der Zusammenstellung der Beitragenden im Sammelband sind einige Trans* -Perspektiven dazu gekommen, was auch noch mal einen ganz anderen Blick auf diesen Titel geworfen hat: Es gibt eben nicht nur Mütter, die schwanger waren, sondern auch Männer und Väter oder nicht-binäre Personen.

Amina: Dann hast du ja dem aktuellen Projekt noch den Untertitel „Perspektiven auf reproduktive Gerechtigkeit und Zeit“ gegeben, warum?

Alisa: Genau, die Website hat noch diesen Fokus auf Zeit bzw. Zeiten. Einerseits ist die Idee eben, Geschichten aus dem Sammelband wiederaufzunehmen und es gibt mehrere Beiträge, zwei Gespräche und auch noch einen Text, die sich ganz konkret auf Beiträge aus dem Buch von 2018 beziehen. Zum Beispiel von einem trans-Mann, der in dem Sammelband über seine Fehlgeburt und seinen Kinderwunsch als Solo-Vater berichtet und der jetzt, sieben Jahre später, ein Kind hat. Das fand ich total schön, mit ihm noch mal darüber zu sprechen, was in dieser Zeit passiert ist. Das funktioniert auch als ein hoffnungsspendendes Moment für Personen, die sich vielleicht gerade in so einer Kinderwunschsituation befinden, zu sehen, okay, diese die Zeiten können sich ändern im Privaten. 

Die Geschichten im Sammelband, das sind Momentaufnahmen von schwierigen Situationen, die aber ein paar Jahre später ganz bestimmt anders sind.


Das ist  der eine Fokus: ZEIT. 


Dann geht es aber in den Beiträgen auch noch ganz stark um die Zeiten, in denen wir leben. Gerade jetzt im Moment, wo rechte Stimmen sich immer mehr in verschiedenste Diskurse nach vorne drängen, also auch in dem ganzen Diskurs um reproduktive Gerechtigkeit, um feminisierte Körper, um queere Selbstbestimmung und Klimakrise. 

Ganz viele dieser Themen, die unsere Zeiten gerade bestimmen.
 

Amina: Ja, und was es bedeutet,  in diesen Zeiten Familie zu leben, in diesen Zeiten Kinder zu haben oder sich Kinder zu wünschen, oder? Du stellst ja auf der Seite laufend Texte und auch andere Formate online. Was war denn für dich wichtig bei der Auswahl von den Personen, den Texten und auch den Themen?

Alisa: Ich habe die Kuration mit Mooooon gemeinsam begonnen, mit einer Person, die in Sachsen als queere Künstler*in und Aktivist*in unterwegs ist. Wir haben versucht, eine Mischung zu finden aus Perspektiven, die schon im Sammelband vertreten sind, aber auch Perspektiven in den Fokus zu rücken, die im Sammelband weniger Platz hatten. 

Das war schon während der Veröffentlichung des Buches eine ganz wichtige Lektion für mich: So ein Projekt kann nie vollständig sein: es ist immer ein Ausschnitt und es wird immer irgendwas nicht vorkommen können, weil es einfach so viele verschiedene individuelle Geschichten gibt, auch in diesen größeren Strukturfragen. 

Für die Website haben wir versucht, den Fokus noch stärker auf pflegende Elternschaft und auf behinderte Elternschaft zu legen.


Im Sammelband ging es eher um Themen wie Schwangerschaft und Pränataldiagnostik. Lustigerweise, obwohl das gar nicht so geplant war, gibt es nun auch mehrere Beiträge zu gewollter Kinderlosigkeit. 

Ich habe das Gefühl, dass es gerade bei dieser Re-Traditionalisierung die wir gerade erleben, ganz wichtig ist, auch immer wieder zu betonen, dass wir uns nicht spalten lassen als feministische Bewegung, als in „die mit Kindern und die ohne.“

Amina: Bisher sind ja erst ein paar Beiträge wie Essays, Texte und auch ein Gespräch, aber auch ein Video online gegangen. Vielleicht kannst du noch ein bisschen was zu den unterschiedlichen Formaten sagen, die du so geplant hast und die uns noch erwarten in den nächsten Monaten?
 

Alisa : Der Vorteil an einer Webseite im Gegensatz zu einem Buch ist ja, dass man dort ganz unterschiedliche Formate sammeln kann. Eben nicht nur Texte und Illustrationen oder Fotos, was alles im Sammelband vorkommt, sondern zum Beispiel auch Videoarbeiten oder Podcasts. Ich habe eigentlich allen Beitragenden diese verschiedenen Optionen vorgeschlagen und manche haben sich dann dafür entschieden, zum Beispiel einen Podcast zu machen. Es gibt z.B. einen Podcast von dem Performance-Künstler und Aktivist Kay Garnellen zusammen mit seinem Kind - und ein Video ist ein Ausschnitt von einem Theaterstück. Es ist natürlich total toll, dass auf der Webseite so zeigen zu können und nicht „nur ein Skript.“  Und es gibt ein paar Gespräche, für die Aufnahmen aufgenommen wurden, die dann auch noch auf die Webseite gestellt werden.
Insgesamt versuchen wir, die Webseite barrierearm zu gestalten. Deswegen sind alle Videos untertitelt und auch die Audiobeiträge werden dann noch als Transkript zur Verfügung gestellt. 
 

Amina: Wie würdest du sagen, lief die Kollaboration mit den an der Website beteiligten Personen? Einige kanntest du ja schon durch die Zusammenarbeit mit dem Buch, aber jetzt sind ja wahrscheinlich auch einige dazugekommen?
 

Alisa: Ja, es ist total unterschiedlich: Manche Beiträge existierten bereits, zum Beispiel Zeitungskolumnen von Simone Dede Ayivi. Mit anderen war es ein sehr intensiver Austausch über ihre Texte, wo ich auch lektoriert und Feedback gegeben habe. 

Es ist auf jeden Fall total schön zu sehen, wie sich die Webseite Stück für Stück zusammengesetzt hat und wie aus dieser Idee dann so ein vielstimmiges Projekt geworden ist.


Was vielleicht auch noch interessant oder wichtig zu sagen ist: Viele Beiträge werden unter Pseudonymen veröffentlicht. Das war auch schon im Sammelband so, weil die Thematik ja sehr intim ist. Und jetzt kommt aber eben auch noch diese ganze toxische Mannosphäre im Internet dazu, wo wir uns auch, also ich als Kuratorin im Gespräch mit den Autor*innen, darüber ausgetauscht haben: Was sind da vielleicht für Risiken enthalten, jetzt den Beitrag unter dem eigenen Namen zu veröffentlichen? Es gibt auch ein paar Beiträge von prominenteren Personen oder Personen des öffentlichen Lebens, für die das Sinn macht, mit ihrem Klarnamen aufzutreten. Aber es gibt auch viele Beitragende, die sagen: Ja, ich möchte ja meine Geschichte teilen, aber nicht unter meinem eigenen Namen. Und das, finde ich, ist auch wichtig bei diesem Thema und in diesen Zeiten, in denen wir leben.
 

Amina: Ja, interessant, weil jetzt der Sicherheitsaspekt doch einfach noch mal ein anderer wird. Das Internet ist ja dann auch noch mal ein anderes Format als ein Buch. Das Buch müssen sich ja auch Leute erst mal kaufen. Im Internet googelst du dann einmal vielleicht die Person und hast dann schon die sozialen Medien und kannst da dann erst mal einen Hasskommentar hinterlassen.
Gestern ist auf der Webseite ja auch ein Text von dir und deiner persönlichen Kinderwunsch - und „Kinder bekommen“- Geschichte erschienen. Wie war es für dich, damit so rauszugehen? Vielleicht kannst du kurz ein bisschen umreißen für die, die es jetzt noch nicht gelesen haben und erzählen was es für dich bedeutet, auch deine Geschichte dem Ganzen hinzuzufügen?

Alisa:  Für mich sind die beiden Projekte schon ein bisschen wie ein Kreis, der sich schließt. Wobei das Thema natürlich auch immer weitergeht. Aber als ich den Sammelband ins Leben gerufen habe, weil ich eben stark mit meinem unerfüllten Kinderwunsch und Fehlgeburten beschäftigt und in Reproduktionsmedizin involviert war, war es für mich ein ganz wichtiges Bedürfnis, so ein Moment des Austausches zu schaffen.  

Und obwohl das Buch ja keine Gruppe ist, die sich trifft, war das schon ein Effekt: Ich hatte das Gefühl, das war ein Forum für viele Personen, sich irgendwie auch versammeln, um sich nicht so allein zu fühlen mit diesen ja sehr schambehafteten Themen.


Und jetzt auf der Website veröffentliche ich zwei Texte über die Frühgeburt, die ich mit meinem ersten Kind erlebt habe. Ich lag selbst fünf Wochen im Krankenhaus und dann das Kind noch mal drei Monate. Das war schon ziemlich intensiv, darüber noch mal zu schreiben. Das ist jetzt fünf Jahre her und der Alltag hat diese ganzen Erfahrungen glücklicherweise in den Hintergrund rücken lassen, wie auch die Kinderwunschzeit und die Fehlgeburten. All diese Momente sind aktuell nicht mehr so präsent für mich. Es war aber toll und wichtig, auch noch mal in diese Situationen reinzugehen. Und ich habe auch schon von mehreren Personen, die den Text gelesen haben, wie auch von dir, das Feedback bekommen, dass das ein berührender Text ist. Und das freut mich natürlich sehr! Irgendwie habe ich auch das Gefühl, okay, ich habe es jetzt einmal aufgeschrieben, es steht jetzt irgendwo. Ich bin nicht mehr in der Situation und das ist auch gut. 
 

Amina: A pro pos Reaktionen: Gibt es zu den ersten Texten, die online gegangen sind, schon erste Reaktionen und auch Gespräche, die du geführt hast, die du teilen magst?
 

Alisa: Ja, auch teilweise von Personen, die das Buch kennen und sich freuen, dass dieses Projekt weitergeht. Tatsächlich habe ich auch noch von Personen Angebote für Beiträge bekommen, was auch toll ist. Das ist so super an der Website, dass sie auch noch wachsen kann, dass ich immer noch mehr Beiträge dort veröffentlichen kann. Es gibt bisher nur positives Feedback von Menschen, die berührt sind davon. Und das freut mich total. Und ich freue mich auch sehr, dass wir das im November dann noch mal im analogen Raum zelebrieren. 
 

Amina: Genau, wie und wann planst du denn den offiziellen Launch? 
 

Alisa: Die Website wird ja jetzt gerade Stück für Stück veröffentlicht. Das heißt, jede Woche werden 4 bis 5 neue Beiträge online gestellt. Am 22. November werden wir beim „Reproductive Futures“ (Infos folgen) dabei sein. Ein Aktionstag in Berlin, der sich mit reproduktiver Gerechtigkeit befasst. Dort wird es dann auf jeden Fall Lesungen von verschiedenen Beiträgen geben und wahrscheinlich noch Workshops bzw. Gesprächsrunden im kleineren Kreis. Also ein Ort, an dem man sich dann zu bestimmten Themen der Webseite auch noch mal in Gruppen austauschen kann. Und wir planen auch noch eine Ausstellung verschiedener Beiträge wie Fotografien oder Videos und vielleicht auch noch einen Podcast. 
 

Amina: Was wünschst du dir von dem Projekt gerade im Hinblick auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen? Wie wünschst du dir, dass es wirksam oder sichtbar wird? 
 

Alisa: 

Ich habe das Gefühl, jede Art von Sichtbarkeit, gerade auch im digitalen Raum, ist im Moment extrem wichtig. Wir versuchen, uns Räume zu erhalten, offen zu halten, um tatsächlich miteinander im Gespräch zu bleiben und in Kontakt zu bleiben. Uns nicht so verunsichern oder auch spalten zu lassen von diesen rechtspopulistischen, rechtsextremen Erzählungen, die da gerade reingespült werden. 

Da wünsche ich mir schon, dass das wirklich ein Ort sein kann, wo man vielleicht verweilen kann, wo man sich irgendwie auf diese Themen einlassen kann, ohne so abgelenkt zu sein.
 

Amina: Möchtest du gerne kurz noch sagen, wer war denn besonders beteiligt oder bei wem würdest du dich denn bedanken? 
 

Alisa:  Das Projekt habe ich ja zusammen mit Mooooon ins Leben gerufen. Wir haben zusammen den Grundstein dafür gelegt und das kuratiert und waren dafür auch sehr viel im Austausch mit dem Gunda Werner Institut, was auch total hilfreich war. Die Landeszentrale für politische Bildung Berlin hat das Projekt mit einer Förderung unterstützt und die UdK Berlin auch. Und der Verein „disruptif- feministisch bilden und beraten“ ist auch ein sehr wichtiges Element von dieser Website und der Kooperation.